Was morgen kommt
Ein Heute ist Zuversicht: Die Geschichte von Sophia und Paul und ihren Kindern Lea und Emilia
Lesezeit: ca. 8 MinutenMan weiß nicht, was morgen kommt, sagt Sophia. Wenn es etwas gibt, das sie weiß, dann das. Schon am Morgen nach Leas Geburt ist nichts so, wie Sophia und Paul es sich vorgestellt hatten. Die Spontangeburt, ihr erstes gemeinsames Kind, das Leben zu dritt. Sophia erwacht aus einer Vollnarkose, verschwommene Bilder an eine Nacht, die ganz unerwartet zur Krise wurde, plötzliche Unruhe, Schmerz und Panik, ein Kaiserschnitt, Ärzte, Stimmen, die immer leiser werden, irgendwo zwischen grellem Licht und erlösender Dunkelheit. Jetzt ist Lea weg – sie wurde abtransportiert, sofort nach der Geburt, in ein größeres Krankenhaus, wo man mehr Möglichkeiten hat. Paul ist mitgefahren, er ist es, der die Diagnose als Erster erhält. Ihr kleines Mädchen hat eine multiple Gehirnmissbildung, Lea wird nie gehen können, nie reden können, sie wird ihr Leben lang schwer beeinträchtigt sein, körperlich wie geistig. Und sie wird unter schwerer Epilepsie leiden.
Das Morgen zu dritt, es steht unter keinem guten Stern. Doch Sophia und Paul finden hinein. Die ersten Wochen fühlen sich fast so an, wie Sophia es sich in der Schwangerschaft oft vorgestellt hat. Sie kann Lea stillen, das Mädchen nimmt zu, eine Physiotherapie soll Defiziten in der Muskelentwicklung von Anfang an entgegenwirken. Sechs Monate hat das junge Paar sich auf sein neues Leben einzustellen. Dann bringt das Morgen den ersten Anfall. Das Baby läuft knallrot an, verkrampft sich, beginnt am ganzen Körper zu zucken, schreit, stöhnt, ringt nach Luft. Es ist der Tag, an dem Sophia und Paul zum ersten Mal alles liegen und stehen lassen, sofort ins Krankenhaus, stationärer Aufenthalt. Und es ist der Tag, an dem die Angst kommt. Denn auch wenn sie damit rechnen mussten, jetzt ist es greifbar, so sieht es aus. Und es wird bleiben und es wird schlimmer werden: An schlechten Tagen wird Lea bis zu 25 dieser Anfälle erleiden, in all den kommenden Wochen, Monaten, Jahren. Und es wird nur wenig geben, was Paul und Sophia dagegen tun können. Ein Ausnahmezustand – als Dauerzustand.
Aus Kraft wird Mut
Man bekommt Kraft, wenn man sie braucht, sagt Sophia. Sie verlässt sich auf sich selbst. Läuft, kämpft, rettet. Schläft nie durch, hört jeden asynchronen Atemzug aus dem Babyfon, stellt sich in Sekundenschnelle auf jede Notlage ein, reagiert nach bester Kraft. Immer. Mit der Zeit kommt die Routine, sagt Sophia. Es kommt Hilfe und Unterstützung, in der Ehe, in Betreuungseinrichtungen. Es kommt der Job zurück, für Sophia ein Ausgleich, eine tägliche Auszeit in der Normalität, in der sie neue Kraft tankt. Es kommen alte Pläne und Hoffnungen zurück. Es kommt neuer Mut. Und es kommt die bewusste Entscheidung für ein zweites Kind. Sophia und Paul wägen sie gut ab, monatelang, sind von Zweifeln erfüllt, doch genetische Tests nehmen ihnen die Angst, nein, es gäbe kein Risiko. Dann sind wir erneut ins Leben gestartet, sagt Sophia, zu viert, mit Lea und mit Emilia, ihrer kleinen Schwester. Drei Jahre vergehen. Es sind gute Jahre. Aber man weiß nie, was morgen kommt.
Zunächst war es nur ein Gefühl, sagt Sophia. Irgendwas ist anders. Irgendwie scheint Emilia sich langsamer zu entwickeln. Therapeuten beruhigen sie, sehen Leas Geschichte als Auslöser der Sorge. Doch als Emilia dann auch noch beginnt unter ständigem, unstillbarem Hunger zu leiden, schrillen bei den Eltern endgültig die Alarmglocken. Eine Reihe aufwändiger Tests bringt bittere Gewissheit: Das Prader-Willy-Syndrom, eine seltene und unheilbare, genetische Erkrankung. Auch ihr zweites Kind wird zeitlebens beeinträchtigt sein. Die Erkenntnis trifft das Paar mit voller Wucht. Du weißt nicht, wo oben und unten ist, sagt Sophia. Du fällst in ein Loch. In ein Tal aus Tränen – aus dem du irgendwie wieder herauskommen musst.
Das Heute kehrt zurück
Es ist Hannibal, der Emilias Interesse weckt, von Anfang an. Mächtig steht das große, schwarze Pferd auf der Koppel, hebt sich durch seine schiere Größe deutlich von den anderen Tieren ab, strahlt dabei aber eine interessierte Sanftheit aus. Langsam führt Therapeutin Michaela das kleine Mädchen an das große Pferd heran. Eine erste Begrüßung, ein Streicheln, ein Striegeln, ein gemeinsames Aufzäumen. Emilia ist zehn, als die Familie im Sommer 2017 zum ersten Mal an den Sterntalerhof findet – aber ihr kognitiver Zustand gleicht dem einer Dreijährigen. Michaela wird sich Zeit nehmen. Und sie wird Zeit geben, gemeinsame Zeit möglich machen. Was braucht die Familie als Ganzes? Was braucht Sophia, was braucht Paul, was brauchen die Kinder? Welche Ressourcen sind vorhanden, die wir stärken können? Wie kann man dem Morgen ein Heute entgegensetzen.
Leas schlechter Zustand gibt das Tempo vor, nicht nur innerhalb der Familie, auch am Sterntalerhof. Ihre Krämpfe, ihre Schmerzen ändern sich stündlich, dominieren den Tagesablauf, lassen kaum Pläne zu. Es gilt, jede gute Stunde zu nutzen – für kleine Spazierfahrten im Rollstuhl und vielleicht sogar für erste Begegnungen mit Ziegen und Eseln. Und es gilt die Beziehung zwischen den beiden Schwestern zu ergründen – und zu stärken. Wie geht es Emilia, wenn ihre ältere Schwester immer wieder im Krankenhaus ist? Welche Rolle hat sie zuhause, im schwierigen Alltag der Familie? Spürt sie, dass Endlichkeit im Raum steht?
Behutsam tastet sich Michaela in Emilias Seelenwelten vor, Pferd Hannibal wirkt dabei als verlässlicher Co-Therapeut. Und für Emilia – muss es unbedingt Hannibal sein, aus allen Pferden auf der Koppel kürt sie das Größte, den mächtigen, sanften, schwarzen Riesen im Team der Tiere am Sterntalerhof. Jetzt steht er da, fertig gestriegelt, fertig aufgezäumt, er atmet tief und mustert das Kind aus sanften dunklen Augen. Emilia zögert. 176 Zentimeter Stockmaß fühlen sich aus der Nähe nun doch bedrohlich hoch an, jetzt wo es ernst wird, wo es aufzusteigen gilt. Michaela spürt das Zögern des kleinen Mädchens. Emilia, wir können gern auch ein kleineres Pferd holen. Aber das ist für die Zehnjährige keine Option, sie will Hannibal und – sie will es schaffen. Sie wird es schaffen. Nur zehn geduldige Minuten später sitzt sie auf dem hohen Rücken des großen Tiers – und lächelt, wie nur Kinder lächeln, die gerade die Welt erobert haben. Und dann ist es vollkommen klar, wohin der erste Ausritt führen muss: Zum Familienhaus, zu Lea, damit sie sehen kann, wie Emilia reitet. Denn Michaela, weißt du, sie ist meine große Schwester. Und ob denn Lea auch mal reiten dürfe.
Das wiederum – würde Michaela gern schaffen. Den richtigen Moment erwischen, in dem Leas Zustand es zulässt. Eine hastige Nachricht an die Kolleginnen schicken, bitte macht das Pferd klar, ja, Stute Summer, ja, es muss jetzt sein, es geht nur jetzt, wir sind in 10 Minuten da – um dann mit Lea dem Rollstuhl ein neues Ziel zu geben: die Reithalle! Fünf Tage wartet Michaela, beobachtet gemeinsam mit Sophia wie es Lea von Tag zu Tag besser geht, dann ist es soweit. Sophia will, sie muss dabei sein. Gespannt sieht sie zu, wie sich Michaela auf Summers Rücken schwingt – und kurz darauf ihre große Tochter bei sich hält, im Sattel, auf einem Pferd. Leas Augen verraten ihre Aufregung, ihre Arme sind steif und verkrampft, aber Michaela hält sie fest und sicher. Summer, bitte Schritt. Langsam beginnt sich die Stute zu bewegen, den Seitenwänden der Halle entlang, in weit gezogenen Kurven. Eine Runde, zwei. Sophias Herz klopft bis zum Hals. Zuerst sind es Leas Augen, die zu funkeln beginnen. Dann entspannt das Mädchen seine Arme, seinen Körper. Und nur Sekunden später huscht ein Lächeln über Leas Gesicht. Sophia bricht in Tränen aus. Man weiß wirklich nie, was Morgen kommt.
Auch abseits der Reithalle gewinnen Sophia und Paul am Sterntalerhof vor allem eines: Zeit. Zeit, die Sophia dafür nutzt, zu sich selbst zu finden. Bei Therapeutin Claudia, in langen Gesprächen und – vielleicht weil sie früher Balletttänzerin war – in der Tanztherapie. Zeit, die Paul gerne mit Seelsorger Franz verbringt, auf kleinen Spaziergängen über die Anlage, den langen Weg hoch zur kleinen Kapelle. Beide schalten eine Woche lang ihre Handies ab, brechen mit dem Alltag, suchen und finden die Pause. Der Sterntalerhof ist wie eine Seifenblase, sagt Sophia, man ist komplett vom Alltag draußen und fühlt sich sicher aufgehoben und getragen. Luft holen, neue Kraft tanken. Und – sich eingestehen, dass man Angst hat. Angst vor Leas nächstem Anfall, immer noch, nach all den Jahren. Angst vor dem, was kommen kann, was kommen wird. Angst vor dem Morgen. Und das Morgen, es kommt. Unweigerlich. Nur wenige Monate nach den wunderbaren Wochen am Sterntalerhof, zwingt es Sophia, Paul und Emilia, sich von Lea zu verabschieden.
Der Baum der Erinnerung
Ein alter Fuchs fühlt, dass der Tod näherkommt. Es ist Winter und es beginnt zu schneien. Der Fuchs zieht sich auf eine Lichtung zurück. Seine Freunde, die Tiere des Waldes kommen, um den Freund zu betrauern. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Erinnerungen an die Zeit mit dem Fuchs. Plötzlich beginnt an der Stelle, wo der Fuchs lag, eine Pflanze zu sprießen. Mit jeder Erinnerung, jeder Geschichte, die die Tiere erzählen, wird die Pflanze größer, bis sie schließlich zu einem Baum heranwächst.
Michaela liebt das Buch „Baum der Erinnerung“. Heute liest sie es für Sophia, Paul und Emilia. Es wird Frühling, wärmende Sonnenstrahlen kitzeln den Morgentau auf den Blättern der kleinen Kugelsteppenkirsche, die sie heute gemeinsam pflanzen werden, an einem schönen Plätzchen unweit der Kapelle. Das Ritual bildet den Abschluss einer weiteren Woche am Sterntalerhof, einer Woche ohne Lea, in einer neuen Zeit ohne Lea. An den Tagen zuvor haben sie kleine Anhänger gebastelt, die das Bäumchen schmücken werden. Emilia hat ein Herz aus Bügelperlen gemacht. Sophia einen Stern aus Holz. Paul hat einen kleinen Brief geschrieben. Fest verankern sie das Bäumchen in dem großen Loch, schaufeln gemeinsam frische Erde darauf, gießen es kräftig und hängen ihre Kunstwerke an die jungen Äste. Dann setzen sie sich daneben in die Wiese und erzählen einander ihre schönsten Momente mit Lea. Auch Michaela, Claudia und Franz sind dabei. Sophia erzählt viel von zuhause. Welche Schmerzen Lea hatte. Was für eine Kämpferin sie war, wie stark sie alles durchgestanden hatte. Wie lange sie immer gewartet hatte, bevor sie zeigte, wie schlecht es ihr ging. Paul weint bitterlich. Er kann, er möchte nichts sagen. Sophia erzählt weiter, vom letzten Sommer und von der Stute Summer und wie Lea auf ihrem Rücken gelächelt hatte. Emilia rückt zu ihrer Mama, kuschelt sich an ihre Seite. Und Emilia, an welchen Moment erinnerst du dich? Schweigen. Gibt es vielleicht etwas Schönes von Lea, an das du dich gerne erinnerst? Emilia blickt an sich selbst hinab, fasst sich an den Körper, streichelt ihren Bauch, hebt dann langsam ihren Kopf und blickt verunsichert in die Runde, zu Mama, zu Papa, zu Michaela und wieder zu Mama. Ihre Lippen beben, ihre Stimme zittert: Ich hab Lea dieses T-Shirt geklaut.
Man weiß nie, was morgen kommt, sagt Sophia. Emilias Trauer kommt in Wellen. Sie hat viel Kleidung von Lea, das ist ihr sehr wichtig. Sie schnüffelt an Leas T-Shirts, an ihren Jacken und Pijamas. Und dann sagt sie Mama, riech, das riecht noch voll nach Lea. Sie schätzt jedes einzelne dieser Kleidungsstücke. Und sie schätzt das Bewusstsein, dass sie Lea gehört haben. Dann setzt sie sich hin und bastelt etwas für sie. Oder packt Geschenke ein, die für ihre große Schwester sind. Oder legt Schokolade ans Fensterbrett, für den Fall das Lea im Himmel plötzlich Hunger bekommt. Sophia lächelt. Wir fahren heute noch an den Sterntalerhof und setzen uns zu dem Bäumchen und erzählen uns, was wir früher mit Lea erlebt haben. Aber wir leben nicht im Gestern, wir leben im Heute, ohne Angst vor dem Morgen. Was kommt, kommt. Und dann setzt sie mit fester Stimme nach: Ich freue mich für jeden, der ein Leben hat, das seinen Plänen folgt, das nicht von solchen Überraschungen geprägt ist, wie wir sie hatten. Aber ich weiß heute auch: Ich möchte keine unserer Überraschungen missen. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für Lea. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für unsere gemeinsame Zeit. Denn auch zwei beeinträchtigte Kinder – sind ein wunderbares Geschenk.