Mias Geschenk
Wie Kinder trauern. Und was das mit Pfützen, Schmetterlingen und Kastanien zu tun hat.
Lesezeit: ca. 6 MinutenMia sitzt nach vorn gebeugt auf einem kleinen Sessel. Gedankenversunken starrt sie auf die Tasse heiße Schokolade in ihrer Hand, mit einem Löffel zieht sie kleine Kreise in die Milch. Draußen hat der Januar ersten Schnee gebracht, und obwohl es hier im Kunstraum angenehm warm ist – die heiße Schokolade tut irgendwie gut. Heute ist Papas Geburtstag. Mia ist neun, sie kann sich gut erinnern, wie es war, als sie Papas Geburtstag noch mit Papa feiern konnte. Wie es war, als sie sich auf diesen Tag freute, fast ein bisschen so, als wäre es ihr eigener Geburtstag. Wie es war, als sie sich ausmalte, ob sich Papa wohl freuen würde, über das Geschenk, das sie für ihn gebastelt hatte, oder gemalt. Es ist lange her, es ist schon der zweite Geburtstag von Papa, an dem er nicht mehr da ist – doch es ist der erste, den Mia am Sterntalerhof verbringt.
Seit einem halben Jahr ist sie regelmäßig hier, einmal die Woche, ein Glück, dass der Sterntalerhof so nahe bei Mias Zuhause liegt. Verwaiste Familien im Umland können Trauerbegleitung am Sterntalerhof auch ambulant in Anspruch nehmen, in gut koordinierten Einheiten, mit der individuellen Kraft unterschiedlicher Therapieformen. Doch für Mia ist dieser Nachmittag keine „gut koordinierte Einheit“ – es ist Papas Geburtstag. Und Therapeutin Michi hat heiße Schokolade gemacht, extra weil es eben Papas Geburtstag ist. Es ist einer dieser bedeutsamen Papa-Tage, einer jener Tage im Kreislauf des Jahres, die früher so besonders, so wichtig und so fröhlich waren, wie Weihnachten, wie ein Vatertag – einer jener Tage, die heute schwer wie Blei auf Mias schmalen Schultern liegen. Auf diese Schwere ist Michi vorbereitet, sie kennt den Geburtstag von Mias Papa. Und sie will dieser Schwere nicht ausweichen, sie will ihr Raum geben, das Datum nicht verdrängen, sondern es zulassen, mehr noch – ihm feierlich begegnen. Ein Stück Kuchen. Heiße Schokolade. Etwas, das Mia schmeckt. Etwas, das Papa geschmeckt hätte. Erinnerungen zulassen heißt – sich für Erinnerungen zu öffnen. Papa war bei der Feuerwehr. Papa war Taucher. Papa liebte Kastanien. Mit Papa war es schön. Für viele dieser Erinnerungen haben Michi und Mia eine eigene kleine Kiste gestaltet, eine Erinnerungskiste, Mia hat sie mit Stoff und Glitzerperlen prächtig verziert. Über die Wochen und Monate hat sie sich langsam gefüllt, mit Fotos von früher, die Mia von zuhause zu ihren Stunden am Sterntalerhof mitgebracht hat, mit Zeichnungen und Bildern, die sie gemalt hat. Sie enthält kleine Geschichten und Notizen, die ihr eingefallen sind, von früher, von Papa, für Papa. Und sie enthält die Kastanien, vom letzten Ausritt mit Herrn Hubert im vergangenen Herbst.
Vier Beine als Brücke
Herr Hubert, das gutmütige Pferd mit den sanften Augen, das älteste Pferd am Sterntalerhof – Mia hatte ihn sofort in ihr Herz geschlossen. Sein tiefer Atem, seine kuschelige Mähne, sein weiser Blick – die beruhigende Gleichmäßigkeit seiner Bewegungen, wenn er Mia auf seinem Rücken trug, im Sommer noch in der Reithalle, dann später hinaus auf die Felder, in die herbstbunten Wälder, Kastanien sammeln, für die Erinnerungskiste. Neue, kleine Momente der Freiheit. Reiten – ausreiten. Doch es ist nicht nur das Reiten selbst, das Therapiepferde wie Herrn Hubert zu so wertvollen Co-Therapeuten macht, sagt Michi Scherzer, Mias Therapeutin am Sterntalerhof. Vielmehr bildet das Tier eine Projektionsfläche von Mias Bedürfnissen, es baut eine Brücke zur Seele des Mädchens. „Ich möchte herausfinden – was braucht’s?“ sagt Michi. „Vielleicht braucht‘s einen Galopp, wenn wir uns groß fühlen wollen, wenn wir Wind im Gesicht spüren wollen, wenn wir mutig sein und uns trauen wollen, die Kontrolle gegen Bewegung zu tauschen.“ Vielleicht braucht‘s aber auch etwas ganz anderes. Versorgung, zum Beispiel. „Kinder haben ihre eigenen Konzepte von den Dingen“, erzählt Michi. „Die Lücke, die Mias Papa hinterlässt, kann in Mia scheinbar konkrete Unsicherheiten auslösen.“ Papa hat mich immer zur Schule gebracht. Wer bringt mich jetzt zur Schule? Und ins Ballett? Und wer kocht am Abend ein Abendessen, wenn Mama in den Nachtdienst muss? Wer übernimmt diese Versorgungsstrukturen? In den Stunden am Sterntalerhof, überträgt Mia ihre Gedanken, ihre Sorgen, ihre Beweggründe auf das Pferd. Es ist wichtig, dass Herrn Huberts Box ordentlich aufgeräumt ist, dass alles seinen Platz hat. Es ist wichtig, dass Herrn Huberts Bett gemacht ist, dass sein Futter gerichtet ist. Und wenn Herr Hubert vom Wald eine Schürfwunde mit nach Hause bringt, dann ist es wichtig, dass Mia diese Wunde gut versorgt. Versorgung. „Dabei zeigt das Pferd dem Kind, dass es ihm etwas zutraut – auf eine ganz andere, viel unbewusstere Weise als beim mutigen Galopp, aber nicht minder tief und ehrlich.“, lächelt Michi. Und nicht minder wirksam. Die Kastanien, bei Mia stehen sie für die Schwere. Sie stehen für den Herbst, für die Zeit des Schulbeginns mit all den vielen Herausforderungen für ein neunjähriges Mädchen. Sie stehen für Papa, der mit Mia Kastanien gesammelt hatte. Zuhause hatten sie daraus kleine Tierchen gebastelt, und Mia und er hatten über fiese Mitschülerinnen gesprochen und wie man mit solchen fiesen Mitschülerinnen wohl am besten umgeht. Manche Dinge konnte man nur mit Papa besprechen, manche Dinge konnte man nur ihm sagen, nur ihm allein. Davon erzählt Mia, hoch oben auf Herrn Huberts Rücken, auf dem Weg zu den Kastanienbäumen am Waldrand. „Und wieder ist es das Pferd, das sie jetzt zu den Kastanien bringt.“ Wieder ist es das Pferd, das eine Brücke baut, zwischen dem Mädchen, seiner Geschichte, den Kastanien – und der Therapeutin. „Pferde sind Seelentröster.“, lächelt Michi. „Und sie sind es, ohne es zu wissen – und ohne etwas Konkretes zu tun.“
Als Mia nach den Weihnachtsferien an den Sterntalerhof zurückkehrt, ist Herr Hubert gestorben. Mia spürt Michis Schmerz, sie weiß, dass Michi Herrn Hubert sehr gern hatte. Jetzt will sie es genau wissen. Wann genau ist Herr Hubert gestorben, wie ist er gestorben und wo ist er gestorben? Und wie geht es Michi damit? Die Therapeutin nützt die Gelegenheit, thematisiert Mias Papa, nützt den Moment, die Trauer zu spiegeln, Fragen zu stellen. Wie geht es dir? Was macht dich sauer? Was macht dich glücklich? „Kinder haben eine eigene Art zu trauern.“, sagt Michi. „Es ist, als würden sie in eine Pfütze stolpern, in der sie tieftraurig sind. In dieser Pfütze verweilen sie eine gewisse Zeit – dann sehen sie irgendwo einen Schmetterling, verlassen die Pfütze und alles ist wieder gut.“ Einmal mehr spielt Michi mit Mia an diesem Tag das kleine Memory-Spiel mit den Gefühlsmonsterchen. Jedes Kärtchen steht für ein Gefühl, traurige Monsterchen, fröhliche Monsterchen. Heute wählt Mia die Karte mit dem zornigen Monsterchen, es ist wutrot, beißt die Zähne zusammen und streckt die Hände zum Himmel. Mia ist wütend, dass Papa gestorben ist. Wütend, dass er sie nicht mehr zur Feuerwehr mitnimmt und zum Schwimmen. Mia ist wütend, dass sie ihm nichts mehr zum Geburtstag schenken kann. Dass sie mit ihm keine Kastanien mehr sammeln kann. Und dass sie ihm nichts mehr sagen kann, ihm ganz allein, nie wieder. Jedem Kärtchen jedoch, jedem Gefühlsmonsterchen – steht immer ein anderes Monsterchen gegenüber. So will es das Memory-Spiel. Und so will es Mia. Sie wählt das lachende Monsterchen, vor lauter Prusten kugelt es sich, hält sich den Bauch, Mia hat ihre Pfütze wieder verlassen.
Eine geheime Botschaft
Draußen vor den Fenstern des Kunstraums hat es wieder zu schneien begonnen, Mias heiße Schokolade ist ausgetrunken. Michi hat eine Kerze vorbereitet, eine kleine weiße Friedhofskerze, die mit einem schwarzen Deckel verschlossen ist. Mia beginnt die Kerze zu verzieren. Sie klebt kleine bunte Herzen auf das Glas und Perlen, die schimmern und leuchten werden, wenn die Kerze dann brennt, wie funkelnde Sterne. Mit einem Glitzerstift malt sie ein großes Herz auf die Kerze und schreibt sorgfältig „Für Papa“ hinein. Ob er sich wohl freuen würde über das Geschenk, das sie für ihn gebastelt hat? Michi zeigt Mia, dass sich der schwarze Deckel der Kerze abschrauben lässt. Darunter ist Platz für eine geheime Botschaft an Papa. Ein kleiner Brief, den man unter den Deckel kleben kann, den Mia hier und jetzt schreiben kann. In dem etwas steht, was sie Papa noch sagen will, nur Papa ganz allein. Und den niemand anders je lesen können würde, wenn Mia die Kerze erst einmal angezündet hat. Mia lächelt. Dann legt sie den schwarzen Deckel zur Seite, nimmt Stift und Papier und beginnt zu schreiben.