Ein Ja zum Leben

Sigrid Blöchs Geschichte ist auch die Geschichte von Josef, Alexander und Maximilian. Und die Geschichte vom Sterntalerhof.

© Sterntalerhof

Wie schafft man das, frage ich mich als Außenstehender. Sigrid Blöch ist zum Termin erschienen, gemeinsam wollen wir über ihre Geschichte sprechen, Teile davon für den Sterntaler aufschreiben. Eine Geschichte, die vielleicht auch ein bisschen die Geschichte vom Sterntalerhof erzählt. Weil es Sigrid Blöchs Familie war, die damals, vor langen Jahren als eine der ersten Familien an den Sterntalerhof kam. Ein gemeinsamer Rückblick soll das werden, auf schwierige Zeiten, auf die erdrückende, scheinbar unbezwingbare Wand vor der man steht, wenn alles plötzlich anders ist. Jetzt sitzt mir Sigrid gegenüber – und strahlt eine fröhliche Leichtigkeit aus, mit der ich nicht gerechnet hätte. Wie schafft man das, frage ich mich immer wieder, nach allem, was sie durchgemacht hat.

Die Arme einfach baumeln lassen: erste Schritte mit

Die Arme einfach baumeln lassen: erste Schritte mit "Silver" an der Hand von Peter Kai | © Sterntalerhof

Ein dunkler Frühling

Nur in den ersten Minuten unseres Gesprächs fällt mir auf, dass sie etwas tiefer Luft holt. Als ich sie nach dem Frühling des Jahres 1997 frage, in dem ihre Geschichte beginnt: Mit ihrem Mann Josef verbringt sie einen Kurzurlaub in Kärnten, ihr kleiner Sohn Alexander ist neun Monate alt. Beim Zähneputzen am Abend fallen ihr kleine Bläschen auf seiner Zunge auf, in der Nacht bekommt das Kind Fieber, am nächsten Morgen verschreibt das Krankenhaus in Klagenfurt ein Mittel zum Einpinseln. Sigrid und Josef brechen den Urlaub ab, reisen nach Hause ins Weinviertel. Schnell sinkt das Fieber, die Bläschen verschwinden, der Kinderarzt ist zufrieden. Drei Wochen später, an einem Freitagabend, bekommt Alexander plötzlich hohes Fieber, der kleine Körper beginnt zu zucken und zu krampfen, hastig packt Sigrid eine Tasche, das Kind muss sofort ins Krankenhaus. Binnen Stunden umstellt ein Heer von Ärzten das Bettchen, sucht nach einer Ursache. Bald erzählt Sigrid die Geschichte mit den Bläschen von vor drei Wochen, noch ohne Diagnose beginnen die Ärzte sicherheitshalber eine Zovirax-Therapie. Doch das Herpes-Virus, es ist heimtückisch. Zunächst will es sich nicht zeigen, dann beginnt es in Alexanders Gehirn zu wüten. Der kleine Bub fällt ins Koma, es beginnt ein wochenlanger Kampf um sein Leben.

Hastig tippe ich ihre Worte in meinen Computer, höre still zu, versuche angestrengt, meine eigene neun Monate alte Tochter auszublenden. Sigrid lächelt entspannt. Konzentriert und gefasst erzählt sie weiter, von der Zeit danach, als sie wieder zuhause ist mit ihrem kleinen Alexander, der seinen Kampf gewonnen hat. Und von dem Kampf, der jetzt für sie beginnt, für Sigrid und Josef. Von dem langen Weg der Erkenntnis, dass nie wieder alles so sein wird wie früher, weil Alexander ein Leben lang beeinträchtigt sein wird, geistig wie körperlich. Von zehrenden Nächten und endlosen Tagen, von den Nasensonden, die das kleine Kind so gestört haben, dass man ihm die Hände hinunterbinden musste, von Schmerzen, Unsicherheit, Wut und Angst. Von der Krise, in die ihre Ehe rutschte, weil sie und ihr Mann sich plötzlich aus anderen Blickwinkeln sahen. Von dem Gefühl, zurückzublicken auf ihre Schwangerschaft, auf die ersten so unbeschwerten Monate mit Alexander. Und von den Seitenblicken auf ihre Freundinnen, deren Leben mit ihren kleinen Kindern so unbeschwert weiterging. Jetzt seufzt sie kurz: Die Leichtigkeit schien damals für immer verloren.

Der Sterntalerhof in seinen Anfangsjahren mit einer urigen Blockhütte als Herberge für Familie Blöch | © Sterntalerhof

Der Sterntalerhof in seinen Anfangsjahren mit einer urigen Blockhütte als Herberge für Familie Blöch | © Sterntalerhof

Zurück ins Leben

Es ist eine befreundete Familie mit ähnlichem Schicksal, die Sigrid Jahre später von einem neuen Hof erzählt, den ein Seelsorger betreibt, für Kinder, für Familien wie sie, im Südburgenland. Zu dieser Zeit ist der Sterntalerhof noch ein kleiner Bauernhof. Peter Kai, und Regina Heimhilcher haben ihn von ihrem Ersparten gekauft – und kämpfen nun unermüdlich, eine Infrastruktur aufzubauen, die es vermag, Menschen wie Familie Blöch in ihrem tiefen Fall aufzufangen. Ein kleiner Stall ist schon da, eine Pferdekoppel, ein Reitplatz. Eine Blockhütte aus Holz als urige Unterkunft mit einem gemütlichen Reiterstüberl fürs Beisammensein und einer Feuerstelle für laue Abende, umgeben von wunderbarer Natur. Ein neuer Ort der Zuflucht für Sigrid, Josef und Alexander – gemeinsam verbringen sie hier ein erstes langes Wochenende. Pferde waren für uns damals Neuland, lacht Sigrid und erinnert sich an die Anspannung, die sie empfand, als Alexander zum ersten Mal auf einem Pferd saß. Das große Tier, der kleine Junge, gemeinsame erste Schritte auf dem sandigen Reitplatz. Die stoische Kraft des mächtigen Vierbeiners an der ruhigen Hand von Peter Kai, die Sanftheit seiner Bewegungen. Binnen Minuten stellt sich Entspannung ein. Ganz von selbst lehnt sich Alexander nach vorn, lässt die Arme baumeln und – lächelt. Sigrid klopft das Herz. Glück. Erleichterung. Getragensein. Die Essenz des Sterntalerhofs.

Sigrid spürt, dass sie hierhin zurückkehren wird. Über die Jahre hält sie engen Kontakt, beginnt sich zu engagieren, teilt ihre Erfahrungen mit dem wachsenden Team am Sterntalerhof. Aus neu gewonnener Zuversicht erwachsen tiefgreifende Entscheidungen – wie die Entscheidung für Maximilian, Alexanders kleinen Bruder. Natürlich haben wir abgewogen, sagt sie nachdenklich. Was ist, wenn was ist? Wer trägt Alexander in der Schwangerschaft, wenn Josef nicht da ist, wer hebt ihn aus dem Rollstuhl? Schaffen wir das – und wie schaffen wir das? Diesmal spricht sie aus, was ich denke.

Ich reiße sie aus ihren Gedanken, bitte sie um einen Zeitsprung, wir landen im Jahr 2010. Zu viert kehren die Blöchs in diesem Sommer an den Sterntalerhof zurück, beziehen das neue Familienhaus in der neuen großen Anlage. Viel hat sich hier verändert. Eine fantastische Reithalle, moderne Stallungen, eine Küchenwerkstatt und Räume für alternative Therapieangebote – Peter Kais Vision ist Realität geworden, wird von einem interdisziplinären Team auf höchstem fachlichen und menschlichen Niveau in die Tat umgesetzt. Von alldem nimmt der fünfjährige Maximilian wenig Notiz, für Alexander und ihn beginnt die Woche mit einer gemeinsamen Begrüßung der Pferde. Ein Kennenlernen mit allen Sinnen. Wie spricht man mit einem Pferd? Wie riecht es? Warum riecht jedes Pferd ein bisschen anders? Warum riecht Gioiella besonders gut? Maximilian, das Geschwisterkind, das zuhause oft zurückstecken muss. Am Sterntalerhof steht er im Vordergrund, erzählt Sigrid. Er geht am Morgen als Erster mit den Therapeutinnen weg. Er kommt als Letzter mit den Therapeutinnen zurück. Er macht Dinge mit den Therapeutinnen, die Alexander nicht kann. Wie etwa die Sache mit den Dinosauriern.

Bärenstarke Typen | © Sterntalerhof

Bärenstarke Typen | © Sterntalerhof

Dinos am Pferd

Maxi kenne sie alle, die Dinos, erzählt Josef am zweiten Tag beim gemeinsamen Mittagessen, sie seien seine große Leidenschaft – und so wichtig, dass ein paar von ihnen den ganzen weiten Weg vom Weinviertel mitgereist sind, hierher an den Sterntalerhof. Ein guter Anlass für Therapeutin Lisa, die kleinen Plastikreptilien am Nachmittag in einem dunklen Stoffsackerl verschwinden zu lassen und mit Maxi zur nahen Reithalle zu schreiten. Gemeinsam begrüßen sie Gioiella, das Pferd, das so besonders gut riecht. Bald sitzt Maxi hoch zu Ross, streichelt Gioiellas Mähne, fühlt das beruhigende Schaukeln, als das große Tier an Lisas Hand die ersten Schritte macht. Ein gutes Gefühl. Nach wenigen Runden reicht ihm Lisa eine Augenbinde. Jetzt sieht Maxi nichts mehr. Er vertraut Lisa, er vertraut dem Pferd und er vertraut seinem eigenen Gleichgewichtssinn. Er bleibt entspannt. Ob er denn wirklich alle Dinos kenne, fragt ihn Lisa und legt das Säckchen mit den kleinen Urzeitviechern auf den Rücken des Pferds. Jetzt muss Maxi eine Hand vom Gurt nehmen – wenn er die Dinos im Sackerl blind ertasten will. Bedächtig tastet sich die kleine Hand vor. T-Rex. Stegosaurus. Brontosaurus. Und das blind, mit einer Hand, auf dem Rücken eines Pferds, das sich bewegt. Was für ein Gefühl. Lisa beobachtet ihn dabei, wie er seine Aufgabe meistert, wie er über sich hinaus wächst, sich öffnet. Eine ganze Woche lang. Aus seinen Gefühlen und Verhaltensweisen zieht sie wichtige Rückschlüsse, die es ihrem Team wiederum erleichtern, die Familie als Ganzes zu begleiten. Immer im Fokus – das zentrale Gefühl der Entlastung. Bei der therapeutischen Arbeit mit den Pferden. Beim gemeinsamen Kochen. Bei der entspannten Wanderung zur nahen Lafnitz. Entlastung für Sigrid und Josef. Für Maximilian. Und auch für Alexander – dem es immer dann besser geht, wenn es seiner Familie besser geht.

Vielleicht kommt es mir nur so vor, aber irgendwie tippe ich entspannter, als Sigrid und ich mit ihrer Geschichte zu einem Ende kommen. Dankbar bin ich, sagt sie leise zu sich selbst. All den Menschen, für ihre Einfühlsamkeit, für ihr Verständnis und ihre Herzlichkeit. Dankbar bin ich aber auch Alexander, der es uns erst ermöglicht hat, solche Menschen kennen zu lernen. Ich lehne mich in meinem Sessel zurück, Sigrid richtet sich auf und sieht mich an. Doch, man kann es schaffen, sagt sie lächelnd. Wenn man sein Ja zum Leben nicht aus den Augen verliert.

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