Mio fliegt

Wenn alles immer wieder anders kommt – die Geschichte der Familie Kranner

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Der Wind, hier oben weht er stärker als unten im Tal. Aber es ist ein leichter, warmer Sommerwind, er duftet nach dem Heu der Wiesen und ein bisschen nach den Tannen an den Berghängen. Mio atmet tief ein. Er steht auf einer kleinen Plattform aus Eisen, der Flying Fox. Schon zuhause hat Mama davon erzählt und dass es wohl das Spannendste und Aufregendste werden würde – in diesem ersten Urlaub seines Lebens. Der Flying Fox, ein dickes Seil aus Stahl, ähnlich dem einer Seilbahn, an dem man hoch über der Erde ins Tal schweben kann, ein Gefühl wie wenn man fliegt. Schon zuhause hat Mio ein Kribbeln verspürt, immer wenn Mama wieder davon erzählt hat. Doch jetzt, wo er tatsächlich hier steht, auf der kleinen Startplattform der Stahlseilrutsche, jetzt ist das Kribbeln noch stärker. Mio blickt hinab ins Tal. Er hat sich bereits „eingeklinkt“, einen Helm aufgesetzt, den Gürtel angelegt, ihn gut festgezurrt und ihn dann mit dem dicken Stahlseil über ihm verbunden. Eigentlich könnte er jederzeit starten. Mios Blick folgt dem Seil. Es führt schnurgerade durch die Luft, zunächst noch auf Höhe der Baumwipfel, dann in den freien Himmel hinaus talabwärts über den kleinen See, wo es Mio nicht mehr erkennen kann. Mio spürt sein Herz klopfen. Einmal noch dreht er sich zu Mama um – das wollte er eigentlich nicht. Er wollte es ganz allein schaffen und nur nach vorn blicken, ganz fest hatte er sich das vorgenommen. Aber nun muss es doch sein, nur ganz kurz, aber doch. Mama macht ein sorgenvolles Gesicht. Sie hat die Hände vor der Brust zusammengeschlagen, als würde sie Mio bitten wollen, doch von der Plattform herabzusteigen und mit ihr zu Fuß ins Tal zu spazieren. Aber Mama sagt nichts, sie legt den Kopf zur Seite und ringt sich zu einem Lächeln durch. Mio blickt wieder nach vorn, einmal noch dem Seil entlang. Dann schließt er die Augen und holt tief Luft.

Ein Kinderhospiz als Familienherberge: In 25 Jahren ist der Sterntalerhof zu einer bedeutenden Institution geworden – bis heute finanziert er sich ausschließlich aus privaten Zuwendungen. | © Sterntalerhof, Johann Konvicka

Ein Kinderhospiz als Familienherberge: In 25 Jahren ist der Sterntalerhof zu einer bedeutenden Institution geworden – bis heute finanziert er sich ausschließlich aus privaten Zuwendungen. | © Sterntalerhof, Johann Konvicka

Ein mächtiger Gegner

„Meistens kommt alles anders“, sagt Sabine Kranner wenn sie auf die letzten zehn Jahre zurückblickt. Sie sagt es nie ohne Lächeln. Denn eigentlich hatte alles so vielversprechend begonnen. So sehr hatten sich Markus und sie eine Familie gewünscht, so gut hatten sie sich vorbereitet – so wenig hatten sie geahnt, was ihnen bevorstand. Erst als Mio ein Jahr alt und immer öfter und immer länger krank wird, beginnt sich zum ersten Mal abzuzeichnen, dass alles anders kommen würde. Am Ende langwieriger Monate mit vielen Untersuchungen, ratlosen Ärzten und vielen weiteren Untersuchungen steht irgendwann eine Diagnose, deren Tragweite für Markus und Sabine anfangs nur schwer zu begreifen ist: Mio leide an einer äußerst seltenen Immunerkrankung, so selten, dass er wohl als jüngster bekannter Patient der Welt gelte, bei dem dieses Syndrom je diagnostiziert wurde. Die Krankheit ließe Mios Gehalt an roten Blutkörperchen im Blut absinken, dieser „Hämoglobingehalt“ müsse ab sofort engmaschig im Krankenhaus kontrolliert werden. Sinke der Wert zu tief ab, brauche Mio dringend eine Bluttransfusion, es sei damit zu rechnen, dass dies bis zu zwei oder gar dreimal die Woche notwendig würde. Die Krankheit bringe ein extrem hohes Thrombose-Risiko mit sich – außerdem sei jeder noch so scheinbar banale Infekt für Mio lebensbedrohlich. Sabine und Markus taumeln, suchen nach einem Hoffnungsschimmer, doch die Ärzte bleiben bei ernüchternden Prognosen. Therapie gebe es keine, schon gar nicht für Kinder, man könne nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.

Das Beste aus der Situation machen – Markus und Sabine sammeln sich, halten sich aneinander fest, machen sich bereit, alles zu geben. Markus' Arbeitgeber, eine Bregenzer Spedition ermöglicht es ihm auf regionale Routen umzusatteln – und Sabine kündigt ihren Job als Reiseberaterin. Stattdessen finden sich die jungen Eltern in einem zehrenden Alltag wieder, bestimmt von Blutwerten, regelmäßigen Aufenthalten im Krankenhaus, von allgegenwärtiger Unsicherheit. Die Krankheit, ein mächtiger Gegner, ihr Verbündeter – die Angst. Denn für Mio scheint nahezu alles ein Risiko zu sein und je älter er wird, desto drastischer werden die Einschränkungen. Nein, Mio darf nicht im hohen Gras spielen. Nein, an den Kindergarten ist nicht zu denken. Und nein, Mio darf auch nicht ins Schwimmbad, außer vielleicht in der Vorsaison und in der Nachsaison, keinesfalls aber im Sommer, wenn all die anderen Kinder dort spielen und planschen. Wo es geht, suchen Sabine und Markus Alternativen, schaffen Möglichkeiten, versuchen das Gute in den kleinen Dingen sehen – und zu feiern. „Mio hat sich uns als Eltern ausgesucht.“ oder: „Sieh nur, Mio, du hast das große Schwimmbecken ganz für dich allein.“ Doch dann kommt wieder alles anders.

So sein dürfen wie man ist: Der freie Tanz erlaubt uns, dass wir uns neu erfahren, dass wir uns selbst wieder spüren und erleben. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

So sein dürfen wie man ist: Der freie Tanz erlaubt uns, dass wir uns neu erfahren, dass wir uns selbst wieder spüren und erleben. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Gegenwind und Zuflucht

Als Sabine, Markus und Mio im Sommer 2017 zum ersten Mal an den Sterntalerhof kommen, hat auch Markus eine Diagnose: Ein komplizierter Verlauf des Guillaume-Barré-Syndrom führt zu Lähmungserscheinungen, zwingt den Mittdreissiger zum Jobwechsel, erschwert den ohnehin beschwerlichen Alltag der Familie. Und sie erschwert es Markus, seinem Sohn Grenzen zu setzen – Grenzen, die Mio so dringend braucht. „Er war ein schwer krankes Kind, dem man seine Krankheit nicht ansah“, erinnert sich Christina Holper, Psychologin am Sterntalerhof. Mios Intelligenz, seine Neugier, sein Hunger auf Erfahrungen und Abenteuer stehen in krassem Widerspruch zu dem Leben, das er führen darf. „Natürlich versuchen die Eltern, den Jungen bestmöglich zu behüten.“, sagt Christina. Doch je mehr sich Mio unter einem Glassturz fühlt – desto mehr versucht er auszubrechen. Er rebelliert nach vollen Kräften, verweigert den Gehorsam. Sabine kämpft, aber fühlt sich gefangen zwischen Verständnis für Mios Rebellion und ständiger Sorge um sein Leben. Auch Markus kämpft – doch seine Kraft schwindet zusehends.

„Wir sehen nie nur das kranke Kind – oder den kranken Vater“, erklärt Christina die Hospizphilosophie am Sterntalerhof, „Wir sehen die Familie als Verbund, als ganzheitliches System, das es zu stärken gilt.“ Sie will Sabine stärken, ihr Raum geben, sich auszuruhen, sich aber auch auszusprechen. Sie will aber auch Markus stärken, der alles geben will, aber nicht mehr alles geben kann. Der seinem Sohn vielleicht zu schnell mal etwas nachsieht, weil er weiss wie es ist, wenn man nicht so kann wie man will – der dabei aber vielleicht auch übersieht, dass er Sabine allein lässt, wenn er Mio in seiner unbändigen Rebellion zu großzügig verteidigt. Und sie will Markus und Sabine als Paar stärken, die gute Basis ihrer langen Beziehung, das vertraute Miteinander, das so vielem standhalten konnte in all den Jahren – und das auch in Zukunft ein Nährboden für Ausdauer und Zuversicht sein wird. Der Hof, die Tiere, die Betreuung von Mio durch ein multiprofessionelles und erfahrenes Team bilden die perfekten Rahmenbedingungen für ausgedehnte Spaziergänge, für tiefe Gespräche, für kleine Schritte zurück zu sich selbst. Zum ersten Mal seit Jahren findet Familie Kranner eine Woche lang zur Ruhe, schöpft neuen Mut und neue Kraft – für das letzte Jahr vor Mios unvermeidlichem Schulbeginn, zu dem wohl wieder alles anders kommen wird.

Doch nicht immer, wenn alles anders kommt, kommt es schlimmer. Wenige Monate später will es ein Team aus Ärzten wagen Mio ein Medikament zu geben, das bislang nur Erwachsenen vorbehalten ist. An Kindern sei es nicht erprobt, weil es weltweit kaum Kinder gebe, die an Mios seltener Krankheit leiden, doch neue Daten versprächen Hoffnung. Sabine und Markus entscheiden sich für das Wagnis – mit überraschendem Erfolg: In kurzer Zeit baut Mio eine wesentlich stärkere Immunabwehr auf, die vielen Bluttransfusionen reduzieren sich erheblich. Die Balance aus größtmöglicher Freiheit und größtmöglicher Sicherheit, sie wird einfacher zu halten. Mio gewinnt ein großes Stück Lebensqualität, rechtzeitig zum Schulbeginn. Er lebt sich in der Klasse ein, schließt erste Freundschaften, begegnet dem Herbst und dem Winter mit kindlicher Lebenslust. Bis im März dann wieder alles anders kommt – und diesmal nicht nur für Mio, Markus und Sabine: Corona versetzt die ganze Welt in Angst und Schrecken, für Kinder mit schwerer Immunschwäche-Erkrankung jedoch wird der Lockdown zum Dauerzustand, neues Medikament hin oder her. Der Glassturz ist zurück – und mit ihm Mios unbändige Rebellion gegen sein zwangsläufiges Gefängnis. Der Sterntalerhof hält Kontakt – per Telefon, per WhatsApp, per Zoom bleibt Christina mit Sabine in Verbindung. Da sein, da bleiben, Rücken stärken, durchhalten, stark bleiben – bis Corona an Bedeutung verliert und der Glassturz Mio wieder freigibt. Denn diesmal wird nicht alles anders kommen und er wird wieder möglich werden – der fast ganz normale Alltag mit einem Kind, das fast ein ganz normales Kind sein darf.

Highlight der Woche: Gemeinsamer Ausflug in den Wald – auf dem Rücken unserer vierbeinigen Co-Therapeuten | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Highlight der Woche: Gemeinsamer Ausflug in den Wald – auf dem Rücken unserer vierbeinigen Co-Therapeuten | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Freiheit!

Jetzt mit geschlossenen Augen fühlt er sich noch wärmer an, der Sommerwind, der über Mios Wangen streicht. Einen kleinen Augenblick noch genießt er die Aufregung. Das Seil, die Weite, die Tiefe, die vor ihm liegt. Das Kribbeln ist kaum mehr auszuhalten, Mios Herz klopft bis zum Hals. Langsam lehnt er sich nach vor, ganz nach vor zum Rand, zum Ende der kleinen Plattform. „Achtung, fertig, los!“ Ein Schritt nach vorn, ein Schritt ins Leere, mit einem Surren setzt sich das Rad am Stahlseil in Bewegung, Mio fliegt. Unter seinen Füßen sausen die Wiesen dahin. Der warme Sommerwind wird zu starkem Gegenwind, rauscht ihm immer schneller um die Ohren, treibt ihm die Tränen aus den Augen und das Haar aus dem Gesicht. Bald verschwinden auch die letzten Baumwipfel links und rechts – jetzt führt das Seil offen abwärts in Richtung des Sees unten im Tal. Mio hüpft das Herz. Freiheit, murmelt er leise in den Gegenwind. Dann schreit er es sich von der Seele, jenes eine so große Wort, als hätte er es soeben erst entdeckt: „Freiheit!“ schreit Mio so laut, dass Sabine es hören kann, oben auf der Plattform, viele hunderte Meter entfernt. Überwältigt und sprachlos blickt Sabine ihrem Sohn hinterher, wie er am Stahlseil talwärts fliegt. „Wenn sie klein sind, gib ihnen Wurzeln – wenn sie groß sind, verleihe ihnen Flügel.“ Christina hatte das einmal gesagt. Dass es jemals möglich werden würde, davon hätte Sabine nie zu träumen gewagt.

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