Abschied vom Abschied

Sechs mal begann Sarah um Steffi zu trauern – Fünf mal zu oft aber kein mal zu wenig: Die Geschichte der Familie Wegscheider

Der Abschied, er kam mit der Diagnose. Und er kam, um zu bleiben, allgegenwärtig ist er seither da, als unweigerliche Folge absehbarer Endlichkeit. Wie ein grauer Schleier umgibt er Steffi, legt sich zwischen sie und ihre Mama, zwischen sie und ihre beiden kleinen Brüder. Zehn Jahre alt ist das Mädchen, als die Ärzte sagen, dass Steffi einen Tumor in ihrem Kopf hat und dass sie wohl nicht wieder gesund werden wird. Mit trotziger Kraft stellt sich Steffi dem Abschied entgegen, sie will ihn nicht, auch drei schmerzvolle Jahre später noch nicht, als schon die zweite Chemotherapie nicht anspricht. Sie stellt sich allen Ratschlägen entgegen, fordert einen dritten Anlauf – aber auch der bleibt erfolglos. Schubweise wächst der Tumor in ihrem Kopf, drückt immer mehr Nervenenden ab, beraubt das Mädchen seiner Kräfte, fordert unnachgiebig Steffis Tod. Nach drei Jahren erbitterter Gegenwehr erzählt eine Therapeutin vom Sterntalerhof, von den Menschen dort, von den Pferden und von einer Woche der Auszeit für sie, ihre Mama und ihre beiden kleinen Brüder. Eine Woche fort von zuhause – ein Lichtblick, der das Mädchen mit stiller Vorfreude erfüllt. Doch erneut zeigt der Tumor seine gnadenlose Macht, schlägt kurz vor Ostern mit aller Kraft zu. Binnen weniger Tage verschlechtert sich Steffis Zustand dramatisch, sie verliert die Kontrolle über ihren Körper, braucht fortan ein Bettgitter und einen Rollstuhl und für die Dreizehnjährige am schlimmsten – sie erblindet. Mit den Tränen kämpfend ruft ihre Mama am Sterntalerhof an, sagt den Aufenthalt ab, macht Therapeutin Lisa wenig Hoffnung auf ein Kennenlernen. „Sie schafft’s nicht“, sagt sie leise ins Telefon.

Erinnerungsgarten am Sterntalerhof | © Sterntalerhof

Erinnerungsgarten am Sterntalerhof | © Sterntalerhof

Familien-Rückführung

Nasses, buntes Laub liegt auf der Straße, als der Krankenwagen ein halbes Jahr später am Sterntalerhof zum Stehen kommt. Steffi hat den Abschied auf Distanz gehalten, einen ganzen Sommer lang. Sie kann nicht mehr gehen, sie kann nicht mehr sehen, sie ist nur noch wenige Stunden wach. Aber sie ist im Besitz ihrer geistigen Kräfte und – sie lebt. Entkräftet bezieht die Familie Quartier. Sarah Wegscheider mit ihrer schwerkranken Tochter, dem neunjährigen Matthias und dem fünfjährigen Timo. Beide Buben sind über den Ernst der Lage aufgeklärt, schreibt Lisa beim Erstgespräch in ihr Notizbuch, der Tod steht seit Jahren im Raum, wirklich spürbar ist er aber dennoch nicht. Die Kinder stehen im Schatten des Dramas der letzten Monate. Matthias kann nicht schlafen, neigt tagsüber zu jähzornigen Wutanfällen, hat ein starkes Bedürfnis nach Ruhe. Timo ist mit Steffi emotional stark verbunden, leidet mit, zieht sich in die Rolle des Kleinkinds zurück, klammert sich hilflos an seinen älteren Bruder. Auch Mama Sarah leidet mit Steffi, leidet aber auch unter dem Druck ihrer alltäglichen Belastung mit einem schwer kranken Kind und ihrem Job bei einer großen Handelskette. Dennoch ringt sie täglich um Fassung, sie muss und will funktionieren, auch hier
und jetzt am Sterntalerhof.

Über die kommenden Tage beginnt das Team am Sterntalerhof mit einer sanften Form dessen, was man vielleicht Familienrückführung nennen könnte. Gemeinsamkeit will Lisa gestalten, gemeinsam tanken Steffi, Sahra, Matthias und Timo Kraft. Kraft, die sie brauchen werden – alle vier. Bewusst trennt Lisa die Aktivitäten der beiden Buben, schafft Freiräume für die kleinen Charaktere, die sich in den vergangenen Monaten dem allgegenwärtigen Abschied unterordnen mussten. Matthias zeigt sich zunächst introvertiert und schüchtern, steht auch den Pferden anfangs zurückhaltend gegenüber. Der ruhige Wallach Benji ist es dann, der sein Vertrauen gewinnt, auf dessen Rücken der neunjährige Bub zu neuem Selbstvertrauen findet. Ich kann hier nicht nur sitzen und mich halten, ich kann sogar einhändig aufknien, Mama, hast du das gesehen, bitte – mach ein Foto. Timo hingegen weigert sich standhaft, die Hände vom Gurt von Herrn Hubert zu lassen, bloß nicht, erst wenn ich so groß bin wie Matthias. Ein einfaches Ballspiel ist es dann, das Timos Fangreflexe weckt und ihn freihändig auf dem Pferderücken sitzen lässt. Hey Timo, sieh mal, deine Hände – sieh mal, was du kannst! Und auch Sarah lässt los. Sie erzählt vom Frühling und den Ereignissen, die sich so plötzlich überschlugen. Vom Abschied, der einmal mehr so nahe schien. Unter Tränen gesteht sie, Steffis Begräbnis bereits zweimal fest geplant zu haben – mit allen Details, mit den Gedichten, der Musik und der Form der Bestattung. Organisation als letzter Strohhalm vermeintlicher Kontrolle. Darf ich denn das überhaupt? Dieser Auseinandersetzung mit den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Familienmitglieder stellt Lisa aber immer auch wieder bewusste Gemeinsamkeit gegenüber – und bindet dabei auch die schwerkranke Steffi mit ein. Vom Geräuschmemory über sensorische Spiele bis hin zum einfachen Früchte-Raten greift das Team auf einen Schatz spannender Aktivitäten zurück, die körperliche Einschränkungen wie Blindheit nicht ausgrenzen, sondern zum Mittelpunkt des gemeinsam Erlebten machen. Eine Eins bis Zwei gibt sich Steffi auf einer wie-krank-fühlst-du-dich-Skala, die bis zehn reicht – und das nach nur zwei Wochen am Sterntalerhof. Steffis Wille, den Abschied auf Distanz zu halten, er ist ungebrochen. Und sie hält ihn auf Distanz – drei weitere Jahre lang.

Die Kapelle mit Blick auf die Anlage | © Sterntalerhof

Die Kapelle mit Blick auf die Anlage | © Sterntalerhof

neue wurzeln schlagen

Dann jedoch behält der Tumor das letzte Wort. Der Abschied, er findet im Zimmer eines Krankenhauses statt, inmitten von Geräten, die irgendwann ausgeschaltet werden. Und dennoch ist er noch immer allgegenwärtig, als Sarah, Matthias und Timo an den Sterntalerhof zurückkehren – zum ersten Mal ohne Steffi. Sarahs fokussierte Sachlichkeit ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, sie ist von tiefem Schmerz erfüllt und treibt in ohnmächtiger Verzweiflung. Matthias und Timo ringen um Orientierung. Der Sterntalerhof, jetzt ist er ein Ort der Zuflucht, eine Herberge in zerrütteten Zeiten. Er ist ein Wiedersehen mit Freunden und Vertrauten, mit Menschen und Tieren, Erinnerung an Momente des Glücks und natürlich auch wieder – Erinnerung an Steffi, an den Abschied.

Trauertherapeutin Claudia gibt den Dreien mehrere Tage des Ankommens, bevor sie dem Abschied selbst eine große Bühne baut – an einem sonnigen Nachmittag. Es wird ein Nachmittag, den sie Steffi widmen, gemeinsam wollen sie für Steffi ein Bäumchen pflanzen. Für die drei ist schnell klar, dass es ein Kirschbäumchen sein soll, weil Steffi Kirschen über alles liebte. Und für Sarah ist es wichtig, dass es in der Nähe des Kinderspielplatzes am Sterntalerhof gepflanzt wird und dass sein Stamm auch ja nicht zu hoch ist, sodass andere Kinder ungehindert davon naschen können. Dass Steffi darin weiterlebt und etwas weitergibt, erklärt sie sich mit kippender Stimme. Gemeinsam graben sie ein Loch, setzen das junge Kirschbäumchen hinein, gießen es und decken es mit Erde ein. Und als es dann gut und fest mit der Erde verbunden ist, hängen Sarah, Matthias und Timo Dinge an die Äste, die sie vorher mit Claudia gemeinsam für Steffi angefertigt haben. Matthias hat ein Bild gezeichnet, Timo einen Brief geschrieben, den aber niemand außer Steffi je lesen darf. Und Sarah hat ein Herz aus Ton gemacht, auf das sie geschrieben hat, wie sehr sie ihre kleine Tochter vermisst. Sechs bittere Male hat sie von Steffi Abschied genommen in diesen letzten fünf Jahren. Mehrmals hat sie Steffis Begräbnis geplant, mit allen erdenklichen Details. Nichts jedoch konnte sie darauf vorbereiten, wie es sein würde, wenn Steffi wirklich nicht mehr da ist. Darauf will Claudia eingehen. Sie klappt ein Kinderbuch auf, den „Baum der Erinnerung“– sie will auf das Schöne fokussieren, an das man sich erinnern kann. Gemeinsam sitzen sie im Gras rund um das Kirschbäumchen – Sarah, Matthias und Timo und hören von guten Erinnerungen. Jetzt ist er wirklich da, der Abschied. Er ist allgegenwärtig und er ist schmerzlich. Nur der graue Schleier der Ungewissheit, er ist dem Kirschbäumchen gewichen, den guten Erinnerungen, den Dingen, die an den Ästen des Bäumchens hängen, der Gemeinsamkeit, mit der sich alle drei in ihrer Trauer hier und jetzt begegnen, an diesem sonnigen Nachmittag, der nur Steffi gehört. Vielleicht fühlt sich das ein bisschen besser an, oder klarer, vielleicht sogar irgendwie befreit. Und wenn es Sarah, Matthias und Timo gelingt, ein Stückchen von diesem Gefühl in ihre Zukunft mitzunehmen – dann gelingt es ihnen vielleicht auch, sich irgendwann vom Abschied zu verabschieden.

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