
Kleine große Schwester
Dies ist die Geschichte von Bastian. Aber auch die seiner Eltern Sonja und Paul. Und die von Bettina, seiner Schwester.
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„Bei uns ist einfach so viel schief gelaufen.“ Es sind einfache Worte, mit denen Sonja Gruber auf die letzten Jahre zurückblickt – auf eine Zeit unvorstellbarer Krise für ihre junge Familie. Dabei hatten sie und ihr Mann Paul sich so auf Bastian gefreut. Ihr zweites Kind, ein Sohn, ein kleines Geschwisterchen für die damals drei Jahre alte Bettina. Alles war vorbereitet – für eine glückliche, gemeinsame Zukunft zu viert. Es sollte anders kommen.

Eine liebevolle, naturverbunde Herberge mit Raum und Zeit für besondere Bedürfnisse: der Sterntalerhof | © Sterntalerhof
Ans Ende der Kräfte
Die Diagnose „Herzfehler“ trifft das Paar noch während der Schwangerschaft. Mit der Geburt beginnt ein nicht enden wollendes Hoffen und Bangen – lange Wochen im Krankenhaus, geprägt von Angst und Zuversicht, ganze drei Mal wird der kleine Bastian am offenen Herzen operiert. Nach zehrenden Monaten endlich zu Hause, versuchen sich Sonja und Paul der Situation bestmöglich zu stellen. Durchwachte Nächte, schwierige, langwierige Tage mit einem schwer kranken Kind. Berge von Medikamenten und Arztterminen, ein Dschungel aus Behörden und Ämtern, Anträgen und Debatten – nicht immer stoßen sie auf Wohlwollen. Sonjas Plan, nach der Karenz wieder zu arbeiten, rückt in weite Ferne – alternative Therapieformen und das plötzlich so aufwendig gewordene Leben belasten auch die finanzielle Situation, der Druck auf die Familie steigt und steigt. Bastian schläft nicht, isst nicht, trinkt nicht. Und dann ist da noch Bettina, sie ist jetzt vier Jahre alt. Irgendwann sagt sie zu ihrem kleinen Bruder „Eigentlich sollten wir teilen und Du hast die Mama viel mehr als ich, aber Du bist halt so krank und ich hab Dich trotzdem lieb.“ Sonja kommen die Tränen, wie so oft in letzter Zeit.
Es ist eine Mitarbeiterin der Organisation „Herzkinder“, die erkennt, dass die Familie am Ende ihrer Kräfte steht und einen Aufenthalt am Sterntalerhof vorschlägt. „Anfangs waren wir skeptisch“ erzählt Paul heute „es war für uns unvorstellbar, mit Bastian woanders hinzufahren als ins Krankenhaus.“ Aber die medizinisch-pflegerische Versorgung ist garantiert, und auch die Finanzierung wird ermöglicht. Wenige Wochen später treffen Sonja, Paul, Bettina und Bastian am Sterntalerhof ein. Vom ersten Moment an steht jedes Familienmitglied im Mittelpunkt. Eine umfassende Betreuung entlastet Sonja und Paul, sie sollen vor allem Zeit bekommen, zu sich finden, Energie tanken. Für Geschwisterchen Bettina beginnen zwei wunderbare Wochen. Schon am ersten Tag ist da jemand, der Zeit für sie hat, und nicht nur eine Stunde, sondern richtig viel Zeit.

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Herr Hubert, bitte Schritt!
HPV-Therapeutin Lisa nimmt Bettina an der Hand und führt sie zur Pferdekoppel. Gemeinsam stehen die beiden eine Weile lang am Zaun und beobachten die Tiere. Welches Pferd wird Bettina sich aussuchen? Und warum? Das Große, das Weiße, das Ruhige oder das Wilde, das Alte oder das Junge? Die Therapeutin kann aus Bettinas Wahl bereits erste Rückschlüsse ziehen. Bettina sucht sich Herrn Hubert aus, ein erfahrenes Pferd, das eine weise Gutmütigkeit ausstrahlt. Noch am selben Tag begrüßt sie Herrn Hubert, Nase an Nase lernt das Mädchen ihr Pferd kennen.
Bettina hat einen Draht zu Pferden, schnell lernt die Vierjährige, wo das Zaumzeug hängt, wie man ein Pferd striegelt und mit ihm spricht. Dabei baut das Kind eine Beziehung auf. Was mag das Pferd und was nicht? Wie reagiert es auf mich und was empfindet es? Wenn Herr Hubert ungeduldig wird, stampft er mit dem Fuß. Und obwohl Herr Hubert so unglaublich groß und stark ist, scheint er vor gewissen Dingen Angst zu haben. Von den Emotionen des Pferds schlägt die Therapeutin eine Brücke zur Seele des Mädchens, thematisiert Furcht, Zorn und Wut, sucht und bietet Wege zum Umgang mit Gefühlen. Dann folgt das Reiten, ein großer Moment. Das rhythmische Schaukeln auf dem Pferderücken gleicht dem embryonalen Schaukeln im Mutterleib, weckt verloren geglaubtes Urvertrauen. Selbstbestimmung und Selbstwert kehren zurück. Bettina wird bewusst, sie ist nicht allein, das gleichaltrige Mädchen der anderen Gastfamilie am Sterntalerhof hat auch ein krankes Geschwisterchen.
Bettina blüht auf. Ihre Eltern blühen auf. Und Bastian – schläft besser. Entspannung macht sich breit, Sonja und Paul machen „die schönsten Fotos von unserem Sohn, die wir haben.“ Fotos, auf denen Bastian glücklich wirkt. Der familienorientierte Therapieansatz am Sterntalerhof zeigt Wirkung: Die ganzheitliche Begleitung aller Familienmitglieder wirkt sich positiv auf das kranke Kind aus. Umso dicker sind nach zwei Wochen die Abschiedstränen, und es ist nicht zuletzt Bettina, der das Team ein Wiedersehen fest versprechen muss.
Wenige Monate später stirbt Bastian. Zu Herzfehler und Thrombozytopenie hatten sich Krampfanfälle eingestellt, zu viel für den kleinen Körper. Sonja und Paul waren bis zuletzt nicht mehr von seiner Seite gewichen, nirgends mehr hingefahren, hatten in ständiger Angst vor dem nächsten Anfall Tage verbracht, die sich wie Wochen anfühlten und doch immer zu kurz schienen. Was nun bleibt ist tiefe Leere, eine Erschöpfung, durchdrungen von Kämpfen mit Ämtern und Spitälern und einer ohnmächtigen Wiederaufnahme alter Lebensgewohnheiten. Sonja und Paul trauern sich auseinander, Vorwürfe und Schuldgefühle bedrohen die Beziehung, für ihre Tochter bleibt kaum Zeit.

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Ein neuer Ort der Zuflucht
Es ist wieder Sommer und Bettina ist fünf Jahre alt, als die Familie drei Monate nach Bastians Tod zu dritt an den Sterntalerhof zurückkehrt. Bettina leidet an Alpträumen und Verlustängsten; es ist dieser Aufenthalt am Sterntalerhof, dem sie über Wochen entgegenfiebert – und dann kommt es tatsächlich, das Wiedersehen mit Herrn Hubert. Inzwischen versuchen Sonja und Paul etwas Zeit für sich zu finden und das Erlebte mit ihrer Beziehung in Einklang zu bringen, eine Psychologin unterstützt sie dabei.
In diesen zwei Wochen der Trauerbegleitung gestaltet der Sterntalerhof eine bewusste Zeit des Abschieds für die Familie. In einer nahen Gärtnerei suchen Sonja, Paul und Bettina ein passendes Bäumchen für Bastian aus, einen Platz dafür haben sie schon: nahe der kleinen Kapelle soll es auch in späteren Zeiten ein Ort der Rückkehr und der Zuflucht sein. Gemeinsam graben sie ein Loch, setzen das Bäumchen behutsam in die Erde, schaufeln das Loch wieder zu und gießen erstes Wasser darüber. Paul spricht einen irischen Segen, Therapeutin Claudia liest Bettina ein Bilderbuch vor – „der alte Bär muss Abschied nehmen“. Sie hat auch Luftballone vorbereitet. Hier beim Bäumchen schreibt jeder einen Brief an Bastian auf ein Kärtchen und hängt es an einen der Ballone. Es kostet Kraft, die Ballone endlich loszulassen – und alle drei sehen ihnen lange hinterher, so lange es nur irgendwie geht.
Hoffnung und Zuversicht begleiten Sonja, Paul und Bettina auf ihrem Weg nach Hause. Sie wissen, dass sie wieder kommen werden – weil Trauer ein Prozess ist, der nie ganz enden wird. „Wir sind dankbar.“ sagt Sonja heute. „Wir haben uns aus heutiger Sicht noch niemals und nirgends vorher so gut erholt und uns nachhaltig so gut betreut gefühlt, wie am Sterntalerhof.“ Diese Dankbarkeit richtet sich aber auch an Bastian, „denn er war es, der uns hierher gebracht hat, an diesen wunderbaren Ort, an dem wir uns so glücklich gefühlt haben!“ Das erklärt vielleicht, warum es für Bastian unbedingt ein Gravensteiner Apfelbäumchen sein sollte – weil ein Apfelbaum den Menschen reich beschenkt.