Der Name der Schlange

Von der Angst, alles zu verlieren und dem Mut, alles zu riskieren: Die Geschichte von Mehdi, Sakina und Reza.

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Die geschotterte Straße vor Mehdis Haus führt zunächst zwischen kargen Felsen einen kleinen Hügel hinab. Dann schlängelt sie sich entlang struppiger Büsche und kleiner Felder, an einzelnen Häusern und am Hof von Onkel Namatullah vorbei bis zum Rand des Dorfes Chardeh. Hier scheint das felsige Ödland Afghanistans abrupt zu enden, macht Platz für ein grünes, fruchtbares Tal, das von einem Fluss durchquert wird, der das Land an seinen Ufern über hunderte Meter weit zum Leben erweckt. Eine einzige große Wiese, mit tausenden Büschen und Bäumen, hinter denen sich eine majestätische Gebirgskette erhebt, die dem Sonnenstand folgend, in unzähligen Braun- und Rottönen schimmert. Mehdi liebt diesen Ort, er liebte ihn schon als Kind. Die Luft riecht hier anders, irgendwie frischer und sauberer als im Dorf – und im Frühling singen hier Vögel wie nirgendwo sonst.

Ob es wohl richtig sei, diesen Ort zu verlassen, wie oft hatte Mehdi sich das gefragt. Das Auto zu verkaufen, den großen Schrank im Wohnzimmer und den Fernseher, möglichst so, dass es niemand in Chardeh bemerkte. Onkel Namatullah heimlich um Geld zu fragen, um doch noch irgendwie an die 8000 Dollar zu kommen, diese hohe Summe, die den Frieden verhieß und doch so unerreichbar schien. Wie viele Nächte war er wach gelegen, hatte versucht, sich Europa vorzustellen, hatte abgewogen, ob er die Reise antreten sollte, zusammen mit Sakina, seiner Frau und mit Reza, seinem fünfjährigen, schwer kranken Sohn. Eine Reise, die seine Familie in Sicherheit bringen würde – vor den Männern mit den Gewehren, die seinen Cousin erschossen hatten und die auch ihn irgendwann finden würden. Eine Reise, die Reza vielleicht helfen würde, weil es in Europa Ärzte gibt, die es in Chardeh nicht gibt, die es nicht einmal in Kabul gibt. Eine Reise ins Ungewisse – nach einem Abschied für immer.

Die überkonfessionelle Kapelle am Sterntalerhof – ein Ort der Einkehr, der Meditation, des Gebets. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Die überkonfessionelle Kapelle am Sterntalerhof – ein Ort der Einkehr, der Meditation, des Gebets. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Zwischen Welten

Rezas linker Arm ist etwas stärker als sein rechter – Kinder, die unter Muskelschwund leiden wissen sowas ganz genau. Und auch Franz Horvath, Seelsorger am Sterntalerhof weiß das ganz genau. Er weiß, dass Reza Brettspiele liebt und Kartenspiele und Strategiespiele, alles, was einen scharfen Geist erfordert – und was man mit einem linken Arm, der etwas stärker ist als der rechte noch so machen kann. Ton kneten zum Beispiel. Oder Bogenschießen. Im Sommer 2015 hatten sich Mehdi, Sakina und der kleine Reza auf ihre Reise gemacht, die Ägäis im Schlauchboot überquert, den Balkan durchwandert, bis sie irgendwann an der Grenze zur Steiermark standen, erschöpft, verängstigt, unsicher – doch voll der Hoffnung und bereit, jede Tür aufzustoßen, die sich auch nur einen Spalt breit öffnen würde. Eine kleine Wohnung in Graz wird ihr neues Zuhause. Die neue Sprache, die neue Schrift beherrschen sie innerhalb von Monaten – ein Job bei einer Burgerkette sichert Mehdis erstes Einkommen, während Sakina als junge Frau neue Möglichkeiten entdeckt, den Führerschein macht und eine Ausbildung zur Elektrotechnikerin beginnt. Besonders dankbar jedoch ist das junge Paar für den Platz, den Reza in der Schule bekommt, für die Ärzte, die sich jetzt um ihn kümmern, für den Rollstuhl der ihm das Leben erleichtert. Dennoch bleibt seine Krankheit ein Kampf, für ihn selbst, wie auch für seine Eltern. Ein Kampf, an jedem Tag, in jeder Nacht. Ein Kampf gegen Schmerzen und den beständig fortschreitenden Verlust seiner Kräfte. Ein Kampf gegen die Zeit, in dem jedes gewonnene Lebensjahr einer gewonnenen Schlacht gleichkommt. „Ein Kampf gegen die Angst, den Kampf am Ende zu verlieren“, sagt Franz. Über das Mobile Kinderpalliativteam Graz findet Familie Aliyari an den Sterntalerhof, im Sommer 2023 verbringen sie hier eine gemeinsame Woche, Reza ist jetzt 13 Jahre alt.

Aufatmen, zu sich selbst finden, neue Kraft tanken: Schon ein gemeinsamer Spaziergang ist gemeinsam verbrachte Zeit. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Aufatmen, zu sich selbst finden, neue Kraft tanken: Schon ein gemeinsamer Spaziergang ist gemeinsam verbrachte Zeit. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Alles, was ich habe

Rezas wacher Geist fällt Franz schon am ersten Tag auf. Nicht nur im Gymnasium, das er trotz seiner Einschränkungen besuchen kann, begeistert der Teenager mit messerscharfem Verstand und unbändigem Wissensdurst – auch am Sterntalerhof scheint er alles Neue geradezu aufzusaugen. Er fragt viel, erzählt von seiner Liebe zum Universum, von seinem Wissen über den Mond und die Sterne. Er hegt große Hoffnung in die Wissenschaft, dass man vielleicht doch noch rechtzeitig eine Medizin gegen seine Krankheit finde. Oder eine Operation vielleicht, durch die er wieder Kraft erlangen könnte. Vor einer Operation hätte Reza aber auch Angst. Dass etwas schiefgehen könnte. Dass er seine kognitiven Fähigkeiten verlieren könnte, seinen Verstand, seinen Scharfsinn – seine geistige Kraft. „Alles, was ich habe.“ Mehdi und Sakina hören ihm zu, Franz beobachtet sie dabei. Er kann spüren, wie sie Rezas Gefühle mittragen. Seinen Mut, seine Hoffnung – und im nächsten Moment seine Angst. Franz möchte da sein, einen Boden des Vertrauens bereiten, nicht nur für Reza, auch für Sakina und Mehdi. Einen Rahmen bilden, um loszulassen, das Hier und Jetzt anzunehmen, zu sich zu finden. Und nicht zuletzt, auch selbst über Angst zu sprechen.

Bei Mehdi erweist sich das als schmaler Grat. Die Angst, sie war schon immer da in Mehdis Leben. Sie kam, als er noch ein Kind war, als er zwei seiner Brüder verlor, weil sie beim Spielen auf eine Mine traten. Sie blieb, als er erwachsen wurde, als die Männer mit den Gewehren nach Chardeh kamen, seinen Cousin erschossen und er Onkel Namatullah zum ersten Mal weinen sah. Sie begleitete ihn auf der langen Reise, die er mit seiner Frau und seinem Kind antrat, um ein neues Leben zu finden, und Hoffnung für Reza. Und jetzt ist sie immer noch da, am Ziel seiner Reise, wo es keine Minen mehr gibt und keine Männer mit Gewehren. In seinem neuen Leben, von dem er sich so viel erhofft hatte. Es ist die Angst um Reza, die Angst, ein Kind zu verlieren – eine Angst, der er scheinbar nichts entgegenstellen kann. „Der Schmerz im Unvermeidlichen ist real“, sagt Franz. „Das Glück im Hier und Jetzt aber auch.“ Das gemeinsame Beisammensein an einem lauen Sommerabend. Das Zirpen der Grillen. Die wunderbaren Spaghetti. Das Bogenschießen am nächsten Tag, von dem niemand gedacht hätte, dass Reza es versuchen wollte und das sie gemeinsam gemeistert hatten, als Tandem-Version, indem Mehdi den Bogen hielt und Reza den Pfeil durch die Lüfte sausen ließ. Rezas Lachen. Mehdis Lachen.

Am letzten Tag knetet Reza eine Schlange aus Ton. Über zwei Stunden lang legt er seine ganze Kraft in das Kunstwerk. Mit dem linken, etwas stärkeren Arm drückt und walkt er den Rumpf, mit den Fingern formt den Schlangenkopf. Ausdauernd und geduldig gibt er ihr ein furchteinflößendes Antlitz mit finster blickenden Augen. Zum Schluss modelliert er zwei scharfe Giftzähne und zwei Hörner für die Stirn, zur Verteidigung. Tief beeindruckt begutachten Mehdi und Franz die fertige Schlange. „Sie ist die letzte ihrer Art“, sagt Reza. „Sie wird vielleicht bald sterben.“ Franz wird hellhörig. Ob die Schlange denn einen Namen habe, will er von Reza wissen. Nachdenklich betrachtet der Junge sein Kunstwerk. Dann antwortet er, ohne den Blick von der Schlange abzuwenden, leise aber bestimmt: „Der ruhige und langsame Tod.“

Bogenschießen – ein Zusammenspiel aus Präzision und Balance: Eine wunderbare Herausforderung für Kinder wie Erwachsene. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Bogenschießen – ein Zusammenspiel aus Präzision und Balance: Eine wunderbare Herausforderung für Kinder wie Erwachsene. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Ein neuer Morgen

Wenn es Frühling wird, vermisst Mehdi sein Tal am meisten. Der Gesang der Vögel, der frische Duft am Morgen erinnert ihn an zuhause, an die grünen Wiesen am Flussufer, an die vielen Büsche, zwischen denen er als Kind mit seinen Brüdern umhergelaufen war. Dann denkt er an Onkel Namatullah, an sein Haus, das er verlassen hat, an sein Auto, das er verkauft hat, um die lange Reise möglich zu machen. Ob es richtig war, sein Zuhause zu verlassen, große Risiken einzugehen, ein neues Leben zu wagen – auch in diesem Frühling kann Mehdi darauf keine Antwort finden. Fest steht nur, er hat es für Reza getan. Er hätte alles für Reza getan. Er hätte noch tausendmal den Balkan durchwandert und tausend Nächte am Bett seines Jungen Wache gehalten. Und am allerliebsten hätte er noch tausendmal für Reza den Bogen gehalten, um sein Lachen zu hören, nur für einen weiteren Nachmittag. Für den Moment bleibt ihm als Trost nur der Name der Schlange – und die Gewissheit, dass Reza keinen Tag ohne seine geistigen Kräfte auskommen musste. Ob er je wieder nach Chardeh zurückkehren wird, Mehdi weiß es nicht. Sicher jedoch wird er eines Tages an den Sterntalerhof zurückkehren. Franz wiedersehen. Danke sagen. Nur jetzt noch nicht. Der Schmerz ist noch zu groß.

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