Wege der Trauer
Der Tod gibt keine Antworten. Und Trauer kennt keine Regeln. Im Gespräch mit Trauertherapeutin Claudia Ritter.
Lesezeit: ca. 3 MinutenLeicht nach vorn gebeugt sitzt Nina neben Claudia auf der Bank am Waldrand. Ihre Schuhe zeichnen kleine Kreise in den Kies, während sie Claudia von den letzten Wochen und Monaten erzählt. Es ist noch kein Jahr vergangen, seit das vierzehnjährige Mädchen seine Mutter verloren hat. Nachdenklich und leise berichtet sie Claudia davon, dass sie zu ihrem leiblichen Vater gezogen ist, dass sie dort alte Freundinnen wiedertrifft, mit denen sie in letzter Zeit viel unterwegs war. Sie erzählt von dem, was vierzehnjährige Freundinnen miteinander besprechen und dass diese Freundinnen viel Spaß miteinander haben, dass sie dabei auch viel lachen und – dass sie sich selbst beim Lachen ertappt hat. Dann hebt sie ihren Kopf und stellt Claudia die eine große Frage, die sie beschäftigt: „Was meinst du, darf ich überhaupt schon wieder lachen?“
Fragen wie diese sind für Trauertherapeutin Claudia Ritter ein deutliches Signal für den Umgang unserer Gesellschaft mit dem Tod. Sie sind Ausdruck eines von Werten und Normen geprägten Menschen, der das „Dürfen“ und das „Sollen“ über das stellt, was ihm wirklich gut tut. „Nach dem berühmten Trauerjahr muss die Sache abgehakt sein“, sagt Claudia „so will es die Gesellschaft.“ Diese Normen sind das erste, was sie mit ihrer Arbeit zu durchbrechen versucht. „Es gibt kein Rezept für richtiges Trauern, auch wenn wir uns das noch so wünschen.“, lächelt Claudia. Sie weiß: Trauern ist gesund, unsere Seele braucht den Prozess des Abschiednehmens. Aber: „Trauer braucht ihren Platz, ihre Zeit – wie viel Zeit, das müssen wir für uns selbst offen lassen.“ Wichtig sei vielmehr, die Möglichkeit zu finden, den Verlust, das Durchlebte ins eigene Leben zu integrieren – und mit dieser Integration dann weiterzugehen. „Man kann sich das wie einen Weg vorstellen, den man gehen muss, seinen eigenen, seinen individuellen Weg, der für jeden Menschen anders aussieht.“
Vier Phasen der Trauer
Natürlich gebe es dabei Parallelen, räumt sie ein. Wissenschaftler wie Verena Kast oder Yorick Spiegel haben vier Phasen der Trauer analysiert. Etwa den Schockzustand, die erste Phase, in der man nicht wahr haben will, was passiert ist – eine innerliche Starre, eine Leere, die mitunter auch durch körperliche Reaktionen wie etwa Herzrasen oder Nervosität begleitet ist. Mit der Erkenntnis des Verlusts folgt eine zweite Phase aufbrechender Emotionen, Angst, Zorn und Wut bekommen Platz, Schuldgefühle drängen sich vor. Beruhigt sich dieses Chaos der Gefühle ein bisschen, beginnt eine Phase des Suchens: Man fühlt sich an den Verstorbenen erinnert – und muss sich immer wieder bewusst machen, dass es den schmerzlich vermissten Menschen nicht mehr gibt. Dann erst folgt die vierte Phase, jene des neuen Bezugs zur Welt und zu sich selbst: Der Verlust, er ist akzeptiert, man öffnet sich wieder dem Leben, das Durchlebte ist ein Stück weit integriert. Ein Stück weit – wiederholt Claudia mahnend. Denn mit den wissenschaftlich definierten Phasen ist das so eine Sache, sie verlaufen nicht linear. „Du gehst drei Schritte nach vor – und wieder zwei zurück.“, seufzt die Therapeutin, „Du glaubst, du bist über das Schlimmste hinweg und dann ist es ein Geruch, ein Bild, ein kurzer Moment der Erinnerung, und schon fühlst du dich in die Schockphase zurückgeworfen!“ Dieses immer-wieder-von-vorn-anfangen zehrt an der Kraft, lässt Trauernde nach Rezepten suchen, die den Umgang mit dem Verlust erleichtern sollen. „Den eigenen Weg zu beschreiten, sich selbst die nötige Zeit zu geben, die richtigen Antworten zu finden, um weiterzugehen – das ist es, worauf meine Arbeit abzielt.“
Von Pfütze zu Pfütze
Dabei sind es aber auch die Kinder, von denen Claudia lernen will. „Kinder trauern anders.“, lächelt sie „Ihre Welt ist noch frei von gesellschaftlichem Druck und geprägten Weltbildern. Sie steigen in eine Pfütze und sind darin zutiefst traurig. Sie lassen ihrem Zorn freien Lauf, geben ihrer Wut vorbehaltlosen Ausdruck. Dann steigen sie in die nächste Pfütze, in der sie wieder fröhlich und lustig sein können – während wir Erwachsene Gefahr laufen, in der einen, traurigen Pfütze stecken zu bleiben!“ So wie Nina. Der frühe Tod ihrer Mutter hat das vierzehnjährige Mädchen erwachsen gemacht, sie geht nicht mehr von Pfütze zu Pfütze: Aus der Frage, ob sie denn schon wieder lachen dürfe, spricht bereits die Frau. Und obwohl Claudia weiß, dass Nina ihre eigenen Antworten finden muss, will sie Ninas Frage nicht unbeantwortet lassen. Sie legt ihre Hand auf Ninas Schulter und sieht sie eindringlich an. „Natürlich darfst du lachen, Nina. Ich habe Deine Mama gekannt, Nina – sie wäre die Letzte, die gewollt hätte, dass Du Zeit deines Lebens tieftraurig bist.“ Der Wind rauscht sanft in den Bäumen. „Verbiete Dir nicht, wieder zu lachen. Sondern lache, weil es dir gut tut.“