Der Grenzgänger
Was es heißt, sich um die Seele zu sorgen. Und warum der Mensch ein Buch mit sieben Siegeln ist. Ein Gespräch mit Franz Horvath, Seelsorger am Sterntalerhof .
Lesezeit: ca. 3 MinutenDas Leben eines Menschen besteht aus vielen Geschichten. Zu Martins Geschichten gehört die, als er einmal im Beifahrersitz eines Rallyeautos mitfahren durfte. Und die, als er mit sechs Jahren einen Erdhügel vor dem Haus erklimmen wollte, was den anderen Kindern spielend gelang, ihm aber schon damals nur unter größten Anstrengungen. Und zu Martins Geschichten gehören die Märchen, immer noch, allen voran der Froschkönig. Franz Horvath kennt Martin, den Autonarren. Für ihn als Seelsorger sind die Geschichten Ausgangspunkt seiner Arbeit. Franz kennt Martin, den Hügelbezwinger. Und Martin, den Muskeldystrophie-Patienten, der in dieser Woche das letzte Mal am Sterntalerhof sein wird, weil es sein größter Wunsch ist, dass sein junges Leben hier zu Ende geht – und nirgendwo sonst.
Ein Seelsorger ist ein Grenzgänger, sagt Franz. Er bewegt sich im Niemandsland zwischen Leben und Tod. Er will ein Pförtner sein, ein Begleiter in diesem Grenzgebiet – für jene Menschen, die es durchschreiten, wie für jene, die zurückbleiben. Im Bewusstsein, dass er selbst die Grenze nicht überschreiten kann. Und im Bestreben, seine Orientierung nicht zu verlieren. Der Ausgangspunkt jeden Sterbens jedoch ist immer das Leben, und diese einfache Erkenntnis macht Franz zunächst zum Lebens-Begleiter. „Es ist ein Zuhören, ein Übersetzen, ein Nacherzählen“, lächelt Franz, es sind die Geschichten. Die Geschichte des Erdhügels etwa, die Martins Mutter schon vor Monaten erzählt hatte. Eine Geburtstagsfeier, spielende Kinder, ein Erdhügel vor dem Haus. Martin, der Sechsjährige, kurz nach der Diagnose, der weinend zur Mama läuft, weil er das einzige Kind ist, das es nicht auf den Hügel schafft. Der es immer und immer wieder versucht – bis er schließlich irgendwann triumphierend auf dem Hügel steht. Martins Mutter zwischen Stolz und Verzweiflung. Franz wird diese Geschichte Martins Mutter „zurückschenken“, wie er sagt – jetzt, in dieser Woche des Abschieds. Ihre Ohnmacht, nicht helfen zu können, zuzusehen wie ihr Kind den letzten Hügel, die letzte Hürde alleine nehmen muss. Wie Martin es damals geschafft hat und wie er es heute schaffen wird – oder morgen.
Er wird die Geschichte von Martins Nahtoderfahrung wieder aufgreifen, die drei Jahre zurückliegt. Die Martin als goldenes Tor geschildert hatte, vor dem er gestanden war und vor dem er innerlich nicht mehr umdrehen wollte. Vielleicht ein tröstliches Bild für Martins Mutter, aber auch eines, bei dem Franz immer mit höchster Achtsamkeit vorgehen muss: „Abschied nehmende Menschen entwickeln mitunter unterschiedliche Konzepte des Jenseits“ weiß der Seelsorger und manche davon bergen eine verführerische Gefahr: Wer nicht Abschied nehmen will, versucht Verbindung zu halten. „Gerät eine solche Vorstellung außer Kontrolle, kann der Trauerprozess nachhaltig gefährdet sein“, warnt Franz. Überhaupt will er geerdet bleiben, auf sich selbst aufpassen, nicht irgendwelchen „diffusen Theorien nachhängen“. Wie glaubwürdig der Glaube ist – das hängt für ihn davon ab, wie glaubwürdig ein Mensch den Glauben leben kann – gerade in Krisensituationen. Spiritualität will er anbieten, aber niemandem aufzwingen. Und das Christsein als Maßstab seines Handelns ist für ihn am Sterntalerhof ohnehin allgegenwärtig – auch abseits des Vollzugs kirchlicher Rituale. Das gemeinsame Frühstück mit Martin, seiner Mutter, seinen Geschwistern und den Therapeutinnen – ein gemeinsames sich-stärken, das Brot miteinander teilen. Oder eben bene-dicere, Gutes sagen, Geschichten hören und zum richtigen Zeitpunkt richtig nacherzählen. „In diesem Kontext will ich aber auch Sympathisant sein“, sagt Franz bestimmt, „Ich will mitleiden, im Sinne von aushalten was sich nicht ändern lässt. Von körperlichen Schmerzen über seelisches Leid bis hin zu existenziellen Lebensfragen – was den Abschied prägt, will ich, muss ich als Sympathisant, als Mitfühlender begleiten.“
Martins Leidenschaft für Autos – Franz sieht darin den Wunsch nach Bewegung, nach einer Freiheit fernab des Rollstuhls. Die Pferde am Sterntalerhof mit all ihren Pferde-Stärken erfüllen diesen Wunsch auch abseits asphaltierter Straßen. Der Froschkönig, er steht metaphorisch für das Gefangensein in einem Körper, für den Wunsch nach Verwandlung. „Ich hinterfrage meine Rolle als Seelsorger am Sterntalerhof immer wieder aufs Neue“, sagt Franz nachdenklich, „letztlich sind die Geschichten aber nicht nur Ausgangspunkt, sondern immer auch ein Ziel meiner Arbeit.“ Er zieht eine letzte Analogie zur Bibel, wo es in der Offenbarung heißt, dass der Mensch ein Buch mit sieben Siegeln sei. „Die Geschichten wie ein Puzzle zusammenzusetzen hilft, ihre Bedeutung zu erkennen.“ Es hilft Martin, dem Menschen, der sich darauf einstellt, die Welt zu verlassen. Und es hilft Franz, dem Menschen, der Martin dabei begleitet. „Nicht, dass dieses Puzzle je vollständig sein müsste.“ lächelt Franz, „Aber auch, wenn das eine oder andere Stück fehlt – der Mensch erkennt das Bild seines Lebens.“