In den Ton die Wut

Susannes Werkzeuge der Kunsttherapie – und was Nina damit macht

Eigentlich ist Ninas Mamatagebuch geheim. Nicht mal Susanne darf darin lesen – obwohl das Mamatagebuch Susannes Idee war, damals, als Mama noch nicht im Himmel war. Da kannst du alles reinschreiben, hatte Susanne gesagt, alles, was die Woche hindurch geschieht und was Mama nicht mitbekommt, weil sie ja im Krankenhaus ist. Und wenn Mama wieder nach Hause kommt, kannst du ihr daraus vorlesen. Eine gute Idee – Nina hatte sofort damit begonnen. Und über die Monate hinweg schrieb sie nicht nur, sie zeichnete auch, sie malte. Sie faltete eines der großen Plakate so lange zusammen, bis es sich ins Mamatagebuch kleben ließ. Die Seite mit dem Plakat ist besonders schwer, wenn Nina das Tagebuch durchblättert, bleibt sie immer wieder an dieser Seite hängen. Dann faltet sie das Plakat sorgfältig wieder auseinander und betrachtet es lange. Wie schön sie es für Mama gemalt hatten, sie und ihre Schwester. Willkommen zuhause, liebe Mama. Und wie viele dieser Plakate sie gemalt hatten. Und wie gut das Essen dann immer geschmeckt hatte, das ihre Schwester für Mama gekocht hatte, Hendl mit Reis. Mamas Lieblingsessen.

Nina hat ihr Mamatagebuch immer dabei. Auch heute, bei Susanne, in ihrem Therapieraum im Süden Wiens. Seit drei Jahren begleitet die Kunsttherapeutin das Mädchen, seit Nina zum ersten Mal am Sterntalerhof war, mit ihrer Schwester, ihrem Papa und ihrer schwer kranken Mama – die nur kurz darauf ihren Kampf gegen den Krebs verlor. Seither will sie dran bleiben an Nina, auch nach oder zwischen ihren Aufenthalten am Sterntalerhof, ambulant in ihrem Atelier. Jede Woche sieht sie die Neunjährige, stellt behutsam Fragen, erfährt von Ängsten und Problemen in der Schule, spürt Ninas kindlichen Kampf mit der bitteren Erkenntnis, dass ihre Mama nicht mehr wiederkommt. Die Einträge in Ninas Mamatagebuch haben sich geändert. Immer öfter enthält es Dinge, die vor Nina liegen – nicht hinter ihr. Ich muss zum Zahnarzt. Ich habe eine Prüfung. Dinge, für die Nina ihre Mama dringend bräuchte. Dinge, die sie ihr nicht mal mehr vorlesen kann. Vielleicht liegt es deswegen jetzt offen auf dem Tisch, das Mamatagebuch, hier bei Susanne, obwohl es ja eigentlich geheim ist. Es ist die Geschichte über die Albträume, die Nina eben vorgelesen hat. Und dass sie Angst davor hat, schlafen zu gehen. Es ist eine Geschichte zu viel, sie kann, sie will sie nicht mehr für sich behalten – und kämpft mit den Tränen.

Ein Klumpen Ton als Medium für Wut, Schmerz und Traurigkeit: Das Ergebnis ist nicht zwangsläufig ein figürliches Schaustück – aber immer ein Unikat, geformt von zornigen Kinderhänden. | ©

Ein Klumpen Ton als Medium für Wut, Schmerz und Traurigkeit: Das Ergebnis ist nicht zwangsläufig ein figürliches Schaustück – aber immer ein Unikat, geformt von zornigen Kinderhänden. | ©

Der Ton als Medium

Susannes Werkzeuge sind Farben und Papier – und wenn die Wut kommt, manchmal auch der Ton. Einen faustgroßen Klumpen legt sie vor Nina auf den Tisch. Alle Traurigkeit soll Nina da hineinlegen, hier und jetzt, in diesen faustgroßen Klumpen Ton. Nina blickt Susanne ungläubig an. Susanne nimmt den Klumpen und knallt ihn mit Wucht auf den Tisch. „Er muss geschmeidig werden“, lächelt sie auffordernd, „jetzt du!“ Mit einem geschluchzten Lachen packt Nina den Klumpen und wiederholt Susannes Bewegung, knallt den Klumpen fest auf den Tisch. Dann beginnt sie den Ton auseinanderzuziehen und wieder zusammenzudrücken. Sie knetet, sie walkt, sie quetscht und reibt den Ton. „Merkt sich der Ton, was ich da jetzt hineindrücke?“, fragt sie mit aufgeregter Stimme, für Susanne die Bestätigung: Sie will sie abladen, die Wut, den Schmerz, die Traurigkeit. Der Ton ist nur ein Medium, das fertige Produkt nicht zwingend ein figürliches Schaustück – aber immer ein Unikat, geformt von zornigen Kinderhänden. Immer fester drückt Nina den Ton, immer wütender wird ihr Blick. Susanne lässt sie machen, bleibt aber die ganze Zeit bei ihr. Nina schnaubt, packt den Ton mit beiden Händen, knetet ihn zusammen – und wirft ihn quer durch den Raum an die Wand. Einen Moment lang sitzt sie nur still da und starrt an die Wand. Dann verlassen sie ihre Kräfte – und Nina bricht in Tränen aus. Der Raum, er ist zu klein für die Wut. Der Ton bleibt liegen, Susanne nimmt Nina an der Hand, verlässt den Raum, geht mit ihr die Treppe hinab und durch die Tür nach draußen in den kleinen Innenhof. Es ist Frühling, die Vögel zwitschern in den Bäumen, eine Katze gönnt sich ein friedliches Mittagsschläfchen. Minutenlang steht Nina da, mit Susanne, schweigend in der wärmenden Nachmittagssonne. „Es ist eine große Welt hier draußen“, sagt Nina irgendwann nachdenklich. „Das stimmt!“, lächelt Susanne. Eine große Welt. Eine grenzenlose Welt. Dann nimmt sie Nina wieder bei der Hand, geht mit ihr langsam durch den Hof, zurück zur Tür und über die Treppe wieder hinauf in ihren Raum, in die kleine Welt – damit Nina ihr Werk am Ton vollendet.

Jahre später wird Nina Susanne wieder besuchen. Sie wird Susanne fragen, ob sie immer noch arbeitet, am Sterntalerhof und in ihrem Atelier. Sie wird ihr erzählen, dass sie bald ihre Lehre abschließt. Dass sie einen Freund hat. Dass es Papa gut geht. Dass sie vor Kurzem ihre Schwester besucht hat und dass ihre Schwester für sie gekocht hat, Hendl mit Reis. Und dann wird sie mit etwas leiserer Stimme anfügen, dass sie manchmal, nur manchmal noch immer in ihr Mamatagebuch schreibt. Aber das – ist eigentlich geheim.

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