Der Herr der Klänge

Wie Musik zur Sprache wird, wenn Worte fehlen: Die Geheimnisse der Musiktherapie

Wenn Dominik über seine Schwester Fiona spricht, wird seine Stimme immer ein bisschen leiser. Fast so, als ob Fiona nicht hören sollte, dass Dominik von ihr spricht. Dabei weiß Fiona ganz genau, dass sie krank ist. Es ist kein Geheimnis, jeder kann es sehen, überhaupt jetzt, wo sie keine Haare mehr hat. Es ist auch kein Geheimnis, dass Papa weggezogen ist – und Mama jetzt alleine ist, mit Fiona, mit Dominik und mit Kerstin, Dominiks ältester Schwester. Vielleicht wird Dominiks Stimme jetzt auch immer ein bisschen leiser, wenn er über früher spricht. Denn früher – war das alles anders. Es war nicht so, dass Mama so viel weinte. Es war nicht so, dass Kerstin und Dominik ihr so viel helfen mussten, wobei Dominik immer sagt, dass er Mama gerne hilft, zuhause, in der Küche, beim Einkaufen, mit dem Geschirr, mit den Sachen für Fiona. Irgendwann früher, waren sie alle eine glückliche Familie – und Fiona war so gesund wie Kerstin und so gesund wie er selbst, wie Dominik. Eigentlich ist es auch so, dass Dominiks Stimme etwas leiser wird, wenn er über früher spricht. Doch hier am Sterntalerhof hatte Therapeutin Lisa gesagt, dass es gut ist, wenn man über all die Dinge spricht. Über die Sache mit Fiona und die Sache mit Papa und wie es früher war – selbst wenn dabei die Stimme ein bisschen leiser wird. Oder man vielleicht sogar weinen muss.

Ob auch Therapeutin Ulla heute mit Dominik sprechen wird? Es ist Nachmittag und Dominik ist schon seit fünf Tagen am Sterntalerhof. Kerstin und Fiona sind wieder bei den Pferden – Dominik jedoch ist Ullas Einladung zur Musikstunde gefolgt. Es war nicht schwer, ihn davon zu überzeugen – überhaupt als Ulla ihm aufzählte, wie viele Instrumente sie hat. Eine Auswahl davon hat Ulla in der Mitte ihres Zimmers auf den Boden gelegt: Eine Gitarre, ein Flöte, eine Harfe, zwei Trommeln und eine Traumleier. Sie sind alle für Dominik, jedes Einzelne darf er ausprobieren, und nein, er muss die Instrumente nicht erlernen, er kann sie einfach nur ausprobieren. Ulla hat Zeit und sie hat nur für ihn Zeit, für Dominik ganz allein. Von Anfang an nimmt sie sich zurück, überlässt dem Kind die Initiative, erläutert und hilft bei Bedarf. Dabei beobachtet die Musiktherapeutin ihren kleinen Klienten. Welches Instrument wird er wählen, wie geht er dabei vor, wie vorsichtig oder wie mutig, wie selbständig, wie entschlussfreudig ist das Kind. Welche Gefühlswelten tun sich auf, wenn die Musik zum klingenden Sprachrohr einer Kinderseele wird. Ihre Erkenntnisse wird sie sauber dokumentieren und später mit ihren Kolleginnen aus den anderen Therapiebereichen des Sterntalerhofs teilen. Doch noch ist es nicht so weit. Dominik hat sich zu den Instrumenten gesetzt und begutachtet mehr, als er spielt. Sanft zupft er die Saiten der Traumleier, bläst behutsam in die Flöte und streichelt über die Felle der Trommeln. Sein konzentriertes Lauschen bestätigt Ulla, dass Dominik bei ihr richtig ist: Die bunte Welt der unterschiedlichen Klänge fasziniert ihn, sein Instrument jedoch – muss er erst noch finden. Irgendwann steht Dominik auf und blickt sich um.

"Musik kann Sprache sein, wo Worte fehlen." – Ein Blick in Ulla Becks Musiktherapieraum am Sterntalerhof | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer

Etwas abseits im Raum steht ein Klavier. Ob er denn darauf auch spielen dürfe, fragt er Ulla mit leiser Stimme und pirscht sich dann vorsichtig an den schwarzen Kasten heran. Ulla rückt den Hocker zurecht und setzt sich zu Dominik. Weiße Tasten, schwarze Tasten. „Ich werd mit dir mitspielen, Dominik, okay?“ Was machen die weißen Tasten und was die Schwarzen. Und wie klingt das, wenn man die Tasten hintereinander drückt. „Versuch es doch selbst mal.“ Vorsichtig suchen die Finger die Tasten. Zum ersten Mal macht Dominik eine Melodie, er bestimmt ihre Töne, formt sie mit seiner rechten Hand. Ein Lächeln huscht über das Kindergesicht, Dominik rückt näher an die Tastatur. Dominik wiederholt die Melodie, diesmal etwas lauter, einmal, zweimal, ein drittes Mal und beim vierten Mal gelingt die Melodie schon schneller und – lauter. Jetzt die zweite Hand dazu, die Linke, auf dass sie jene tiefen Töne treffe, die der Melodie magisch beizustehen scheinen. Dass eine linke Hand so etwas überhaupt kann. Dominik lächelt erneut. Jetzt beginnt er die Melodie zu improvisieren, gibt ihr ein neues Ende. Irgendwann wiederholt er sie nicht mehr, sondern spielt einfach weiter. Und weiter. Ulla hat ihre Hände zurückgezogen, Dominik ist längst nicht mehr bei ihr. Er wirkt wie in Trance ist bei der Musik, ganz beim Klavier – und ganz bei sich selbst. Er spielt, als ob er schon viele Male gespielt hätte, er schöpft Klänge, mit beiden Händen, immer stärker und immer lauter.

Zehn Minuten vergehen, zehn weitere und nochmals zehn. Ulla wird ihn nicht unterbrechen. Sie wird ihm nicht sagen, er spiele zu laut oder zu wild. Sie wird den Moment abwarten, in dem Dominik zur Ruhe kommt. Dann wird sie ihm sagen, wie begeistert sie von Dominik ist. Dass er sich einfach hinsetzt und so wunderbar Klavier spielt, und das gleich beim ersten Mal mit zwei Händen. Dass er sich der Musik einfach hingibt, eine halbe Stunde lang, in einer Art und Weise, wie es vielen Erwachsenen nicht gelingt. Und wenn Dominiks Mama kommt, um ihn abzuholen, wird sie sich mit Dominik freuen – weil er es nicht erwarten kann, seiner Mama vom Klavier zu erzählen. Und weil seine Stimme dabei kein bisschen leise ist.

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