Was es noch braucht
Mit einem internen Abschlussritual für verstorbene Kinder beendet das Team am Sterntalerhof seinen Jahreskreislauf. Trauertherapeutin Claudia Ritter über Aufbau, Ablauf und Hintergründe.
Lesezeit: ca. 5 MinutenWas braucht’s? Es ist eine einfache Frage, aber am Sterntalerhof ist sie von zentraler Bedeutung. Was braucht’s, damit Familien deren Leben völlig aus den Fugen geraten ist neue Kraft schöpfen, neue Zuversicht finden? Was braucht’s, um der Angst zu begegnen, die das Leben einer Mutter bestimmt, wenn das Morgen ihres Kindes in den Sternen steht? Was braucht’s, damit ein Geschwisterkind wieder Kind sein kann? Und was braucht’s damit das schwer kranke Kind inzwischen gut und sicher aufgehoben ist? Was braucht’s? Die Frage wird immer neu gestellt, weil es darauf so viele unterschiedliche Antworten gibt. Sie wird von den Therapeutinnen gestellt, von der Psychologin und der Sozialarbeiterin, vom Seelsorger, von der medizinischen Betreuung – von jenen Menschen, die am Sterntalerhof das Team der Lebensbegleitung bilden. Von Menschen wie Claudia Ritter. Seit über 15 Jahren ist Claudia Trauertherapeutin am Sterntalerhof, sie kennt die Frage, sie kennt viele der Antworten. Jahr für Jahr stellt sie die Frage für betroffene Väter und Mütter, für Kinder und Geschwisterkinder. Am Ende jedes Jahres jedoch stellt sie die Frage für sich selbst – und für das Team.
Es ist ein kalter Freitag Morgen im Dezember, in wenigen Tagen ist Weihnachten. Der Sterntalerhof wird für zwei Wochen seine Pforten schließen, nur die Tiere werden versorgt, das Team der Lebensbegleitung wird sich zuhause für ein neues Jahr erholen. Doch bevor dieses neue Jahr beginnen kann, muss das alte gut abgeschlossen sein. Es war ein langes Jahr. Ein Jahr, in dem acht Kinder „vorangegangen sind“, wie Claudia es nennt. Acht Parten, die Claudia abgelegt hat. Acht Einträge in einer immer länger werdenden Liste. Acht Kinder, die hier am Sterntalerhof Geschichten geschrieben haben, mit ihren Familien, mit den Tieren, mit dem Team der Lebensbegleitung. Was braucht’s jetzt für uns? Claudia will Antworten finden, einmal noch in diesem Jahr, einen ganzen Vormittag lang. „Das gemeinsame Abschlussritual ist zu einem festen Bestandteil unseres Jahreskreislaufs geworden.“, erzählt Claudia. Es ist ein Vormittag nur für das Team, zwei Monate lang hat sie ihn vorbereitet, hat sich mit Kolleginnen abgestimmt, hat Gespräche geführt und Fragen gestellt – auch sich selbst. Wie geht es dir? Was belastet dich? Was willst du dalassen, wenn du vom Sterntalerhof nach Hause fährst, in den Weihnachtsurlaub? Was braucht’s, damit das gelingen kann, damit uns das gemeinsam gut gelingen kann? Das Ritual beginnt um neun Uhr morgens, im Freien, im offenen Kreativpavillon, mit einem Lichtertanz. Alle 12 Kolleginnen und Kollegen der Lebensbegleitung sind da, niemand würde sich das Abschlussritual entgehen lassen. Leicht fröstelnd stellen sie sich auf, im Kreis, weil nichts so sehr eine gemeinsame Mitte schafft, wie die Kreisförmigkeit. Kleine Lichter werden ausgeteilt, von Claudia vorbereitete, leere Nutellagläser mit einem Teelicht, dessen kleine Flamme durch buntes, aufgeklebtes Seidenpapier schimmert. „Was wir unter dem Jahr den Familien geben, versuche ich einfließen zu lassen.“, sagt Claudia. Vielseitige Kompetenzen. Aber auch scheinbar kleine, einfache Konzepte – mit großer Wirkung. Musik erklingt, ein gemeinsamer Tanz eröffnet die Bewegung. Die Gruppe bleibt dabei im Kreis, die Schritte sind einfach, meditativ. Nach fünf Minuten endet die Musik, die Lichter werden alle zur Mitte gestellt, achtsam und bewusst. Hier werden sie bleiben und brennen, bis das Ritual zu Ende ist.
Nach vorn blicken – und zurück
Die Gruppe zieht weiter, in die Küchenwerkstatt des Sterntalerhofs. „Nach einem meditativen Beginn suche ich den Übergang in nicht minder meditative Kreativität“, sagt Claudia. Gemeinsam beginnt das Team, Trauerkarten zu gestalten, für nächstes Jahr, für die Zukunft, als persönliche Karten vom Sterntalerhof für Angehörige der Familien. Eine gute Stunde lang basteln, zeichnen, malen, schreiben die Teammitglieder, „Jeder sucht sich seinen Platz, jeder kann seinen Gedanken, seiner Inspiration freien Lauf lassen, es gibt kein Richtig oder Falsch.“ Wichtig ist Claudia, dass die fertigen Karten am Ende ihren Weg in den Kasten finden, an einen dafür vorgesehenen Platz, um dort in Zukunft einen realen Zweck zu erfüllen – und dass sich alle dieses Zwecks bewusst sind.
Nach einer kurzen Pause sammelt sich die Gruppe dann vor dem großen Sensorik-Raum im Hauptgebäude. Ein paar Atemzüge will Claudia gemeinsam innehalten, bevor sie die Türe öffnet. Der Raum ist leicht verdunkelt, am Boden in der Mitte brennt eine Regenbogenkerze – als leuchtender Mittelpunkt einer Installation aus bunten Tüchern. Rundherum stehen acht laminierte Bilder mit Fotos der in diesem Jahr verstorbenen Kinder, sowie acht Teelichter und acht kleine Laternen. Auf Decken nimmt die Gruppe Platz, im Kreis, den Blick zur Mitte gerichtet, auf die Kerze, auf die Kinder, die Geburtsdaten, die Sterbedaten. Claudia beginnt chronologisch im Kreislauf des vergangenen Jahres. Sie nennt den Namen des ersten Jungen, er ist im Jänner verstorben. Als Bezugsbetreuerin war es Therapeutin Verena, die ihm und seiner Familie besonders nahestand. An diesem Morgen ist es Verena, die das erste der acht kleinen Teelichter vom Boden nimmt, um es an der brennenden Regenbogenkerze zu entzünden und in eine Laterne zu stellen. „Mit diesem Entzünden des Lichts, holen wir den Verstorbenen bewusst in die Runde.“, sagt Claudia. Nun teilt das Team gemeinsam Erinnerungen an den kleinen Jungen, Geschichten, Anekdoten aus seinen Wochen am Sterntalerhof. Fröhliche Momente, berührende Momente, traurige Momente. „Es ist der gemeinsame Austausch, um den es hier geht,“, sagt Claudia, „das gemeinsame An-Denken, die Vielfalt an Erinnerungen, die unterschiedlichen Zugänge unserer Teammitglieder – aber auch die Möglichkeit, nochmals in gemeinsamer Runde etwas loszuwerden, etwas dazulassen.“ Dabei ist es jedermanns freie Entscheidung, eine Geschichte zu teilen, oder lieber nur den anderen still zuzuhören.
Ein Zuhause für die Erinnerung
Mit acht kleinen Laternen in der Hand macht sich die Gruppe dann auf zur letzten Station des Rituals, zur kleinen Kapelle des Sterntalerhofs. Auch die Fotos der verstorbenen Kinder haben die Teilnehmer mitgenommen, halten sie achtsam vor sich, während sie sich in der Kapelle wieder im Kreis einfinden, diesmal stehend, rund um den Baumaltar in der Mitte, auf dem die acht Laternen stehen. Seelsorger Franz lässt einen Augenblick der Stille verstreichen, bevor er ein paar abschließende Worte spricht. Dann finden die Bilder der Kinder ein neues Zuhause, in einem kleinen Häuschen aus Stoff, das seit Jahren hier in der Kapelle steht, dessen Dach man aufklappen kann und in dem auch bereits viele Parten und Erinnerungsbilder aus den Vorjahren liegen – für Jedermann zu sehen, der die kleine Kapelle am Sterntalerhof besuchen will. „Etwas für die Zukunft aufheben, Bezugspunkte schaffen, Orte, zu denen man zurückkehren kann.“, sagt Claudia – der alljährliche Abschluss des Abschlussrituals am Sterntalerhof. Der Abschluss eines Vormittags nur für das Team. Sie haben sich erinnert. Sie haben sich bewusst bei den Verstorbenen aufgehalten, mit Namen, mit Geschichten. Sie haben sich verabschiedet.
„Natürlich kann ein solches Ritual nicht alles vergessen machen – oder alle Traurigkeit beiseiteschieben.“, sagt Claudia. Aber es kann einen Prozess unterstützen. Es kann ein Element der Verbindung sein, es kann erden und dabei helfen, den Blick auf gewisse Dinge zu richten. „Es kann eine der Antworten sein, auf die ganz große Frage: Was braucht’s?“ Für die Kinder und Familien am Sterntalerhof. Aber auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.