Westernheld
Ein Pferd, eine Kindergruppe, eine Mission: Reitpädagogik kreiert Fantasiewelten – und stellt hohe Anforderungen an ein wunderbares Tier.
Lesezeit: ca. 4 MinutenRuhig und entspannt steht der Tinker-Wallach Benji in der Reithalle des Sterntalerhofs – vor einer gespannten Wäscheleine. An allen möglichen Stellen des großen Tiers hängen Kleidungsstücke, auf seinem Rücken vor dem Gurt liegen ein Kinderpyjama, ein kleines, gelbes T-Shirt, ein Pulli, kurze Sommerhosen. Fabian hat die Sachen da hingelegt, hat das Pferd mit Wäsche regelrecht dekoriert. Er muss das so tun, denn Fabian ist heute ein Cowboy und Cowboys bringen ihre Wäsche nun mal mit dem Pferd zur Wäscheleine. Stolz und fest sitzt er auf Benji, mit Cowboyhut und lässigem Halstuch, betrachtet die Kleider und streichelt seine Mähne – es war gar nicht einfach, die Kleider alle so am Pferd unterzubringen, dass sie nicht hinunterfallen. Aber das Schwierigste steht erst bevor. Denn jetzt müssen alle Kleidungsstücke an die Wäscheleine und zwar so, wie das Cowboys eben tun – vom Pferd aus! Zuerst das gelbe T-Shirt. Pinzettengriff, die eine kleine Hand am Shirt, die andere an der Wäscheklammer. Hoch ist diese Wäscheleine gespannt, aber hier vom Pferd aus – genau perfekt, in der richtigen Höhe. Leicht hinüberlehnen, dabei aber gut sitzenbleiben. Benji bleibt ruhig stehen. Und jetzt - mit gekonntem Griff Shirt, Klammer und Leine zusammenführen - das erste T-Shirt hängt! Es folgen Pulli und Pyjama. Benji steht immer noch ruhig da. Und zuletzt die kurzen Hosen, besonders schwierig, hier braucht‘s zwei Wäscheklammern. Fabian konzentriert sich, die Hose darf nicht runterfallen. Benji rückt etwas näher an die Wäscheleine heran. Erstes Hosenbein, erste Klammer. Zweites Hosenbein, zweite Klammer – geschafft! Die anderen Kinder jubeln, Fabian strahlt.
Das harte Leben der Cowboys
„Es ist dieses Geschafft-Gefühl, das Erfolgserlebnis um das es geht“, lächelt Reitpädagogin Silke de Vries. Sie betreut an diesem Nachmittag Fabian und vier weitere Buben und Mädchen, alle sind sie Geschwister von schwer kranken Kindern. Und sie hat sich heute für das Thema Wilder Westen entschieden. Nicht nur, weil sich das bei Pferden vielleicht aufdrängen würde, sondern vor allem, weil Kinder wie Fabian das brauchen. Er wächst ohne Vater auf, mit seiner Mama und seiner Tante - und mit seiner schwer behinderten kleinen Schwester. Er hadert mit seiner Identität, möchte gerne stark sein und kräftig und furchtlos. So, wie es Cowboys eben sind. „Reitpädagogik kreiert Fantasiewelten“, erklärt Silke weiter. „Einen Nachmittag lang sind wir Cowboys und Cowgirls im Wilden Westen.“ In der Reithalle hat sie einen Parcours mit mehreren Stationen aufgebaut. Leere-Dosen-Umwerfen, Hufeisen hämmern, einen „Schlangengraben“ zum drüber Balancieren, die Wäscheleine – meisterbare Herausforderungen für kleine Helden! Dabei steht jedes Kind einmal im Mittelpunkt, während ihm die anderen unterstützend zur Hand gehen. Spielerisch, aber sorgsam, tastet die Pädagogin dabei Gefühlswelten ab, fördert Konzentration und Motorik, baut ganz alltägliche kleine Hürden wie eben Wäsche waschen in ihr Konzept mit ein.
Die Kraft der Ruhe
Der Tinker-Wallach Benji ist fest in den Parcours eingebunden. Er ist viel mehr als nur Arbeitstier oder Reisebegleiter. Er ist Mittelpunkt der Therapie, zentrales Element der Cowboy-Fantasiewelt. Heute im Wilden Westen, morgen vielleicht in einer Meereswelt oder als Pferd der Prinzessin – alle Herausforderungen an allen Stationen hängen unmittelbar mit ihm zusammen. Durch seine schiere Größe ist er zunächst ein respekteinflößendes Tier, das gut beherrscht werden will. Dann wird er zunehmend Kumpel, Freund und Helfer und wertvoller Unterstützer beim Überwinden der einzelnen Aufgaben. „Man braucht dazu ruhige und ausgewogene Pferde, die überdies für die Arbeit mit Kindern auch nicht allzu groß gewachsen sein sollten.“ erklärt Silke die Anforderungen an Benji. Die langjährige Ausbildung zum Therapiepferd enthält spezifische Elemente, die das sensible Tier auf seinen Einsatz in der Reitpädagogik vorbereiten. Denn Silkes kindgerechte Westernwelt hält auch für Benji einiges bereit, vor dem sich „normale“ Pferde fürchten – laut klappernde Aludosen etwa, flatternde Wäscheleinen oder ungestüme Kinder. Aber Benji bleibt ruhig. Mit entspannter Gelassenheit trägt er Kind um Kind von Station zu Station, erfüllt seine Doppelrolle als Co-Therapeut von Silke, als Spielgefährte der Kinder.
Zum Ende der eineinhalbstündigen Therapieeinheit hat jedes Kind auf ihm gesessen, seine Sicherheit, seine Harmonie gespürt und erlebt. Mit dem Pferd, mit seiner Hilfe hat jedes Kind den aufregenden Wildwest-Parcours gemeistert. Zum Schluss begleitet das Tier die kleinen Cowboys zur letzten Station, der Goldmine – einem großen Eisenschaffel, der mit Sand gefüllt ist. Eifrig wird losgeschürft, mit Schaufel und Sieb graben die Kinder versteckte Gold-Nuggets und Kristalle aus dem Sand. Was wohl die Bank dazu sagen wird? In einer kleinen Schatztruhe trägt Fabian seinen geschürften Kristall hinter eine Absperrung zur Bank, wo Silke mit Benji schon auf ihn wartet. Prüfend hält sie den Stein ins Licht der tiefen Sonne. Er funkelt magisch. Aber auch das Pferd will befragt werden - gemeinsam halten Silke und Fabian den Kristall vor Benjis blaues Auge. Der Wallach atmet tief, er senkt seinen mächtigen Kopf zum Zeichen – der Kristall ist echt! Fabian strahlt, erneut. Die Bank belohnt den tapferen Cowboy mit einem großen Stück Schokolade. Und der Cowboy belohnt sein treues Pferd – mit einem saftigen Apfel!