Herr Dr. Herincs, das Sternenhaus nimmt Gestalt an. Was empfinden Sie?
Freude. Wir haben so lange drauf gewartet. Ich freue mich sehr, dass der Bau nun möglich wurde. Es ist so wichtig für den Sterntalerhof. Es ist, als hätten wir in Kitzladen das letzte Mosaiksternchen gesetzt. Als wäre der Sterntalerhof jetzt „komplett“.
Inwiefern?
Nun, bisher hatten wir hier keinen Rahmen für den Akt des Sterbens selbst. Den Abschied begleiten wir immer schon, vor und nach dem Tod eines betroffenen Kindes. Mit dem Sternenhaus konnten wir nun endlich einen Raum schaffen, in dem auch das Sterben selbst stattfinden kann – bestmöglich begleitet durch unser multiprofessionelles Team. Das ist es, was sich so viele betroffene Kinder und Familien wünschen. Und das ist es, was ihnen das Sternenhaus bieten kann.
Und der Bedarf dafür wächst.
Ja, leider. Jedenfalls nehmen wir das so wahr, wenn wir uns in Österreich umblicken. Es gibt etliche Orte, an die Sie sich wenden können, wenn Sie einen Hüftgelenksersatz brauchen. Es gibt bereits mehrere Orte, an die Sie sich wenden können, wenn Sie eine Herztransplantation brauchen. Aber es gibt nur wenige Orte, an die Eltern sich wenden können, wenn Sie ein Kind verlieren. Der Sterntalerhof ist so ein Ort – der noch dazu mit seinem Konzept der ganzheitlichen Lebens-, Sterbe- und Trauerbegleitung in Österreich einzigartig ist. Das ist ein starkes Angebot – das wir mit unserem Team machen können.
Diesem Team gehören Sie an – als Arzt.
Als Hospizarzt – diese Präzisierung ist mir wichtig. Denn der Sterntalerhof ist ein Hospiz im ursprünglichen Sinn dieses Wortes: Wir beherbergen Menschen, wir begleiten sie, vielleicht tragen wir sie. Als Hospiz sind wir stolz auf die Vielfalt unserer Berufe – und unser Hauptfach ist dabei psychosozial, nicht vordergründig medizinisch. In diesem Kontext muss ich als Arzt meine Rolle finden – dann bin ich Hospiz-Arzt.
„Wir beherbergen Menschen, wir begleiten sie, vielleicht tragen wir sie.“ – Dr. Gustav Herincs über das Hospiz-Verständnis am Sterntalerhof. | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer
Können Sie diese Rolle etwas näher beschreiben?
Das ist zunächst mal eine stark beratende Funktion. Diese nehme ich im Vorstand des Sterntalerhofs wahr. Es ist wichtig, dass unsere Arbeit hier nicht im „luftleeren Raum“ geschieht, sondern medizinisch abgesichert ist. Dafür trägt der Arzt die Verantwortung. Er ist es, der rein rechtlich die Anordnungskompetenz hat, alle anderen haben die Durchführungskompetenz. Im Team am Sterntalerhof macht mich das aber nicht zum ersten Geiger – wie etwa an einem Krankenhaus – sondern eher zur zweiten Bratsche. (lacht)
Was meinen Sie damit?
Betroffene suchen Antworten. Vielleicht suchen sie auch mal die Antwort eines Arztes, wenn sie eine konkret medizinische oder pflegerische Frage haben. Dann können Sie sich an mich wenden. Aber die Erfahrung zeigt, dass es am Sterntalerhof vorrangig psychosoziale Kompetenzen braucht – und die haben wir in den letzten 20 Jahren erfolgreich aufgebaut: Mit unterschiedlichen Therapieformen, von der tiergestützten Therapie über Kunst- und Musiktherapie bis hin zur Trauertherapie und zur psychologischen Betreuung.
Der ganzheitliche Ansatz.
Genau – doch was bedeutet „ganzheitlich“? Den Menschen in seinem Ganzen zu sehen. Mit all seinen Facetten, seinen Erfahrungen, seinen Empfindungen, seinen Wünschen, Träumen und Ängsten. Schon das ist eine große Aufgabe. Am Sterntalerhof wollen wir aber auch die Familie ganzheitlich sehen. Als System, als menschlicher Verband aus Erwachsenen und Kindern, die sich in einer tiefen Krise wiederfinden, aus der es zunächst keinen Ausweg zu geben scheint. Das kann man nicht nur medizinisch beantworten.
Also gibt es gegen Trauer keine Medikamente?
Nein. Die Zeit der Trauer ist eine Zeit, in der die Betroffenen sehr verletzlich sind. Je nach Trauerphase wissen sie nicht, wo oben und unten ist. Sie können nichts essen. Sie können nicht schlafen. Da kann es schon sinnvoll sein, wenn man akut ein Medikament verschreibt – in dem Bewusstsein, dass man damit aber lediglich ein Symptom lindert. Denn Medikamente lösen das Problem nicht. Trauer ist keine Krankheit. Trauer ist ein Prozess, der begleitet werden will. Ich kann einem Trauernden nicht verschreiben, wie er zurück ins Leben findet – aber ich kann ihn dabei unterstützen. Unterstützung bieten – das ist es, was wir am Sterntalerhof tun. Und das ist es auch, was ich tue und tun will, als Arzt, als Mensch.
„Man kann einem Trauernden nicht verschreiben, wie er ins Leben zurück findet.“ – Dr. Gustav Herincs über den Trauerprozess | © Sterntalerhof, Stephan Zwiauer
Dabei müssen Sie aber auch auf sich selbst achten.
Natürlich. Man befindet sich in einem gewissen Spannungsverhältnis – man muss sich eigene Grenzen setzen, dabei aber immer auch „berührbar“ bleiben. Wissen Sie, am Ende meines Studiums habe ich einen sehr engen Freund verloren. Er starb an Lymphdrüsenkrebs, es war sehr schwierig mit anzusehen und ich hatte absolut keine Möglichkeit, ihm irgendwie zu helfen. Ich habe mich furchtbar hilflos gefühlt. Ich wollte mich nie wieder so hilflos fühlen. Heute weiß ich, dass ich wohl aufgrund dieser Geschichte Hospizarzt geworden bin.
Das heißt, Sie schöpfen die Kraft für Ihre Tätigkeit – aus Ihrer Tätigkeit?
Wenn Sie so wollen – ja (lacht): Denn wenn man sehen kann, wie Betroffene wieder in ihr Leben zurückfinden, ist das wohl die schönste Kraftquelle, die man sich in unserem Beruf vorstellen kann. Wobei wir in unserem Hospitzteam natürlich alle auch wissen, wo wir uns hinwenden müssen, wenn wir selbst in schwierige Situationen geraten. Dann begegne ich vielleicht selbst jemandem, der aushält was ich sage – wenn ich eine Geschichte erzähle, die ich erlebt habe und die mich nicht loslassen will.
Wenn Sie in die Zukunft blicken – was wünschen Sie sich für den Sterntalerhof?
Nun, wir arbeiten an einem zweiten Standort in Tirol – es wäre wichtig, das psychosoziale Angebot des Sterntalerhofs näher zu betroffenen Familien im Westen Österreichs zu bringen. Aber wenn Sie mich nach meinen Wünschen fragen, möchte ich nochmals auf die Unterstützung zurückkommen: Die Unterstützung, die wir Betroffenen geben ist nur möglich, weil wir dabei selbst unterstützt werden – von innen wie von außen: Von unserem exzellenten Team und unseren ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Von jeder Spenderin und jedem Spender, die ich viel lieber Unterstützer nenne, weil sie sie sich mit ihrer Spende unterstützend an unsere Seite stellen – und damit an die Seite unserer Kinder und Familien. Ich sehe, wie wichtig diese Unterstützung ist. Und wenn es etwas gibt, dass ich mir für die Zukunft des Sterntalerhofs wünsche, dann dass diese Unterstützung nie endet – sondern weiterhin immer größer und stärker wird.