Die kleinen Erfolge
Achtsam in Bewegung: Ergotherapeutin Maria Mies
Lesezeit: ca. 3 MinutenHeute nimmt Maria einen weichen, trockenen Schwamm. Schließlich kennt sie Tina noch nicht so gut, das 11 jährige Mädchen ist erst den zweiten Tag am Sterntalerhof. Tina sitzt in ihrem Rollstuhl und blickt Maria mit großen Augen an. Sie kann zu Maria, zu dem Schwamm nichts sagen – und auch ihre Arme geben ihr wenig Spielraum, sich zu äußern. Umso achtsamer muss Maria sein. Mit bedächtiger Ruhe kauert sich Maria zu Tina, legt den Schwamm an die Hüfte des Mädchens. Hier fängt dein Bein an. Langsam streicht sie nun dem Oberschenkel entlang nach unten, über das Knie bis hinab zu ihrem Fuß, hält inne, hält Blickkontakt zu Tina. Dann führt sie den Schwamm auf die linke Seite von Tinas Fuß und übt sanften Druck aus, wiederholt dasselbe auf der rechten Seite. Wieder eine kleine Pause, bevor der Schwamm zum Fußrücken und schließlich zur Fußsohle streicht, um auch hier kurz sanften Druck auszuüben. Jetzt wartet Maria eine ganze Minute lang. Wie reagiert das Mädchen. Kommt Blickkontakt? Verändert sich die Atmung? Maria muss Tinas Reaktionen richtig lesen, bevor sie entscheidet, weiterzumachen. Jetzt begrüßen wir deine Zehen, sagt sie dann lächelnd. Jede einzelne drückt sie kurz, bewegt sie nach oben und nach unten. Maria will, dass Tina ihre Beine spürt, ihre Schenkel, ihre Füße und Zehen. Sie will in Bewegung kommen und wenn keine aktive Bewegung möglich ist, dann soll Tina eben jene passive Bewegung erleben, die jedem Menschen durch seine Gelenke gegeben ist. Gelingt das Erlebnis – ist das ein kleiner Erfolg.
Bewegung, Tätigkeit, Betätigung. Das ist, worauf Maria ihren Fokus legt. Seit vergangenem Frühling ergänzt sie das Team am Sterntalerhof als Ergotherapeutin. „Aus der Bewegung entsteht Teilhabe“, lächelt Maria und mehr Teilhabe am Alltag sei eines der Ziele der Ergotherapie. Teilhabe und Selbstbestimmung. „Mir ist wichtig, dass die Kinder möglichst viel selbständig machen können – in der wenigen Eigenaktivität die sie haben.“ Dazu ist es notwendig, Bewegungsabläufe zu stärken oder gegebenenfalls auch das Umfeld anzupassen – bei Aktivitäten, die für das Kind von Bedeutung sind. „Wenn ein Kind gerne Uno spielt, will ich ergründen, wie kann das Kind weiterhin Uno spielen? Welche Bewegungsabläufe sind dafür notwendig, wie muss man das Umfeld verändern? Das beginnt bei der Sitzposition und geht über umgestellte Tische bis hin zur Frage, wie man es einrichten kann, dass das Kind die Uno-Karten selbst hält“, erzählt Maria und formuliert ein klares Ziel: „Das Kind muss wirklich dabei sein. Und nicht nur nebenbei halt auch dabei“.
Die Bewegung ist es aber auch, die dem gesunden Menschen zur Erfahrung und Entwicklung seiner Körpergrenzen verhilft. Daher konzentriert sich Maria als Ergotherapeutin am Sterntalerhof auch stark auf die Sinneswahrnehmung. Etwa dann, wenn Tina ihre Beine spüren soll. Mit einem weichen Schwamm als Medium zwischen Marias Hand und Tinas Bein, auf dem schmalen Grat zwischen körperlicher Empfindung, Distanz und Achtsamkeit. Mit einem Augenmerk auf das kleinste Detail in Bewegung und Reaktion. Und mit dem Ziel, einen weiteren, kleinen Erfolg zu erreichen.
Ein Bussi, das kitzelt
Am nächsten Tag empfängt Maria das Mädchen im Bewegungsraum. Heute will sie mit Tina die Bewegung des Greifens stärken. Dafür hat sie ein Hör-Memory vorbereitet, verschiedene kleine Behälter, gefüllt mit Nudeln, kleinen Glocken oder Reis, die sich leicht greifen und gut schütteln lassen und die dabei die unterschiedlichsten Geräusche von sich geben. Es dauert nur wenige Minuten, bis Maria sich sicher ist, dass Tina sich langweilt. Kurzerhand disponiert sie um, schiebt den Rollstuhl ins Freie und spaziert mit Tina zum Eselgehege. Tinas Augen werden wacher. Der Rollstuhl parkt mitten im Gehege, Esel Kasimir stapft herbei, um seinen Gast zu begrüßen. In ganzer Größe stellt sich das Tier neben den Rollstuhl, senkt den Kopf und beginnt Tinas Füße zu beschnuppern. Tinas Atem wird schneller, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Maria spürt, der Esel wirkt. Ein kurzes Schnauben, dann legt Kasimir seinen Kopf über Tinas Schoß. Perfekt. Tina hebt den Arm, will den Esel streicheln, Maria greift ein, hilft ihr die Hand zum Fell zu führen. Dabei beobachtet die Therapeutin das Kind, achtet auf jede noch so kleine Bewegung. Wie hoch führt Tina ihren Arm? Wie weit öffnet sie ihre Hand? Bewegt sie vor Freude vielleicht gar ihre Beine? Kasimir genießt die Streicheleinheit, ganze zehn Minuten lang. Und Tina konzentriert sich ganz auf das Tier, ganze zehn Minuten lang. Dann beschließt der Esel, die Therapieeinheit zu beenden – nicht jedoch, ohne sich gebührend von seinem Gast zu verabschieden. Vorsichtig führt Kasimir seine Nüstern zu Tinas Wangen, streift mit seinen Tasthaaren immer wieder über ihre Nase. Ein Abschiedsbussi, das kitzelt. Tina kann es spüren. Und Tina ist überglücklich. Wieder ein kleiner Erfolg.