Mission (im)possible
Lockdown am Sterntalerhof: Stillstand, Aufbruch, Zuversicht.
Lesezeit: ca. 3 MinutenAnfang März 2020 – Österreich vor dem Stillstand. Auch am Sterntalerhof herrscht Unruhe. Was ist möglich, was ist zu vermeiden, was ist gefährlich? Schon in den Tagen vor der Verkündung des landesweiten Lockdowns durch die Regierung, ist Corona auf dem Radar des Teams – schließlich gehören fast alle unserer Familien zur Risikogruppe. Und dennoch – auch für den Sterntalerhof kommen die Auswirkungen der Pandemie überraschend. In einer dringlich einberufenen Besprechung werden Möglichkeiten und Unmöglichkeiten abgewogen – dann werden alle Familienwochen bis auf Weiteres abgesagt und der Sterntalerhof wird offiziell geschlossen.
Sofern man den Sterntalerhof überhaupt "schließen" kann. Denn eine nah an die Natur gebaute, hektargroße Anlage, in der gerade der Frühling erwacht – braucht Betreuung. Und Pferde, Esel, Schafe und Ziegen lassen sich nicht einfach auf Ruhemodus schalten. Ein Radldienst schafft Abhilfe: Vom ersten Tag an teilt sich das Team die Grundversorgung der tierischen Co-Therapeuten – in Einzelarbeit, dem Gebot der sozialen Distanz verpflichtet. Das zu organisieren ist soweit keine große Herausforderung, auch wenn zunächst nicht absehbar ist, wie lange das Land im Dornröschenschlaf versinken wird.
Wochen der Stille
Eine seltsame Ruhe legt sich übers Land. Dörfer und Städte sind menschenleer, am Himmel verschwinden die Kondensstreifen, nur noch vereinzelt ziehen Autos über die Straßen. Wie geht es unseren Familien? Wie wirkt sich der neue Ausnahmezustand auf sie aus, auf ihre Probleme, auf ihr Leben, auf ihren Alltag – der sich in vielen Fällen ja immer wie ein Ausnahmezustand anfühlt, ganz unabhängig davon, ob ein neues Virus die Menschheit bedroht. Diese neue Bedrohung, wie nehmen sie sie wahr? Haben sie noch Zugang zu der therapeutischen Versorgung, die sie so dringend brauchen? Wie spüren sie neue Belastungen, etwa durch ungewohntes Home-Schooling von Geschwisterkindern oder durch Ängste um Jobs? Wie wirkt sich die neue, seltsame Ruhe auf ihre Kinder aus?
Nein, den Sterntalerhof kann man nicht schließen – darüber herrscht nach wenigen Tagen Einigkeit. Wir müssen Kontakt halten, jetzt mehr denn je. Tägliche Besprechungen zu Möglichkeiten und Unmöglichkeiten folgen, diesmal über Skype. Wie können wir Kinder aus dem andauernden Trott des Lockdowns befreien? Wie können wir ihren Eltern ein Sprachrohr bleiben, welche digitalen Möglichkeiten haben wir? Wie können wir präsent sein, aus der Ferne unterstützen, Zuversicht vermitteln? Das Team intensiviert seinen Radldienst und macht sich ans Werk.
Alle Familien, deren geplante Sterntalerhof-Aufenthalte abgesagt werden mussten, werden umgehend kontaktiert. Für die Eltern werden regelmäßige Webkonferenzen eingerichtet, an denen das multiprofessionelle Betreuungsteam teilnimmt. Mit den Kindern werden virtuelle Tierbegegnungen organisiert – über das Handy verbunden nehmen sie an Ausritten und Stallarbeiten teil, tauschen sich dabei mit ihren Therapeuten aus, berichten über ihre Ängste, Sorgen und Hoffnungen.
Virtuelle Kraft
Darüber hinaus ruft das Team eine interaktive Newsletter-Serie für Familien ins Leben, die auch kleine Aufgaben mit Herausforderungen und Zielen verbindet. Kunsttherapeutin Susanne setzt dafür eine virtuelle Schreibwerkstatt für Gefühle auf und studiert mit den Kindern ein Lied ein. Seelsorger Franz bereitet einen Ostergruß vor, zum Vorlesen, zum Nachdenken, zum Innehalten. Und Psychologin Christina organisiert einen Malwettbewerb mit der Aufgabe, Erinnerungen an den Sterntalerhof zu Papier zu bringen – weil es in schwierigen Zeiten eben wichtig ist, sich an schöne Dinge zu erinnern. Es ist ein Wettbewerb, bei dem man nur gewinnen kann: Weil sich jedes Kind, das teilnimmt, im Gegenzug auf ein kleines Päckchen freuen darf. Aktivität, Zeit, Vorfreude, Freude: Zutaten, aus denen neue Kraft entsteht, in viel kleineren Dosen zwar, als es am Sterntalerhof möglich wäre – aber auch virtuell wirkungsvoll.
Mit zunehmender Dauer der seltsamen Ruhe muss die Belegschaft aber auch die Arbeit am Hof verstärken. In Zweierteams stellen die Pferdetherapeutinnen gespielte Therapieeinheiten mit Kindern nach – damit die vierbeinigen Co-Therapeuten ihren Job nicht verlernen und an bestimmte Abläufe, Geräusche und Gegenstände gewöhnt bleiben. Und da auch viele Unternehmen ihre sonst so hilfreichen Arbeitseinsätze am Sterntalerhof absagen mussten – springen auch die Mitarbeiter aus den administrativen Bereichen ein, rupfen Unkraut, putzen Koppelzäune, schneiden Hecken und sanieren den Fahrradschuppen. Schließlich muss die Anlage bereit sein – für den Tag, an dem die seltsame Ruhe "neuer Normalität" weichen wird.
Dieser Tag, er kommt an einem Montag im Juni. Für den Sterntalerhof bringt er das erste Familienauto, das nach dem Lockdown hier parkt. Für das Team bringt er das gute Gefühl, endlich wieder in vollem Umfang arbeiten zu können – helfen zu können. Für unsere Familien bringt er ein kleines Aufatmen: Das Ende der sozialen Isolation. Das Ende eines Ausnahmezustands im Ausnahmezustand. Und ein kleines bisschen Zuversicht.