Kleine Fee ganz Groß

Von einer Idee zur tanzenden Fee: Kunsttherapie schafft Raum für spielerische Entfaltung.

© Sterntalerhof

„Der Zauber kann beginnen.“ Es wird noch ein paar Tage dauern, bis Anna diese Worte ausspricht. Jetzt steht sie mit Susanne und sieben anderen Kindern auf einer kleinen Terrasse, am Boden liegt Papier. Es ist Geschwisterwoche am Sterntalerhof und die siebenjährige Anna ist zum ersten Mal alleine hier, ohne Mama und Papa und ohne Leonie, ihre schwer kranke Schwester. Diese Woche gehört nur Anna – und anderen Geschwistern. Schüchtern steht sie in der Runde, hält sich im Hintergrund und beobachtet Susanne aus sicherer Distanz, wie sie das Papier am Boden ausbreitet. Auf jedem Blatt Papier steht ein Wort. Ängstlich. Pferd. Eis. Fee. Und Höhle. Gemeinsam mit den Kindern hat Susanne diese Worte ausgesucht, jetzt wird eine Geschichte daraus.

„Wir spielen und tanzen eine Erzählung“, erklärt Susanne den Hintergrund ganzheitlicher Kunsttherapie am Sterntalerhof, „bildnerische und darstellerische Aspekte der Kunst fügen sich dabei intermedial zusammen.“ Ein interdisziplinäres Therapeutinnen-Team betreut die Kinder in diesem Prozess – spielerisch sollen sie sich öffnen, ihren Befindlichkeiten und Gefühlen Ausdruck verleihen. Gleich zu Beginn werden sie in zwei Gruppen aufgeteilt. In zwei bis dreistündigen Workshops studiert jede Gruppe ein Tanztheater ein, das sie der anderen Gruppe am Ende der Woche als Geschenk darbringt. Annas Gruppe erzählt die Geschichte von Kleiner Wolf, dem Indianer, der einen Büffel erlegen will, dabei aber irrtümlich auf ein Pferd schießt. Das verwundete Pferd zieht sich daraufhin ängstlich in eine Höhle zurück. Gute Feen erscheinen dem kleinen Indianer und führen ihn zur Höhle. Dort zaubern sie kleine Eisblöcke herbei, um die Wunde zu versorgen und das Pferd von seinem Schmerz zu befreien. Kleiner Wolf entschuldigt sich bei dem Pferd und nimmt es mit zu seinem Stamm, wo sich dann Feen und Indianer versammeln, um den guten Ausgang der Geschichte zu feiern. „Alles, was ich dabei vorgebe, ist ein loser Rahmen – inhaltlich wie zeitlich“, sagt Susanne. Es sind die Kinder, die das Theater mit Leben füllen. Wie sie das tun wird allenfalls beobachtet, nicht jedoch analysiert oder gar bewertet.

Wie man Eis herbeizaubert

Die kleinen Schauspieler suchen sich ihre Rollen aus. Kilian spielt Kleiner Wolf, Fabian spielt das Pferd. Anna möchte eine der Feen spielen. Über die kommenden Tage modelliert sie ihre Figur aus Ton, gestaltet gemeinsam mit den anderen Kindern ein Bühnenbild, sucht aus einer bunt gemischten Kuriositätenkiste das für sie passende Kostüm aus. Ein Haarband mit einer Feder, etwas Tüll – wenig Maskerade mit großer Wirkung: Denn so minimalistisch das Kostüm wirken mag, so hilft es Anna doch, ihre neue Feenrolle anzunehmen. „Für Kinder ist jede Probe eine Generalprobe“, sagt Susanne, auch Anna nimmt ihre Rolle ernst. Schon zwei Tage später steht sie auf der Bühne, in der Höhle, mit Kleiner Wolf, mit dem verwundeten Pferd und mit den anderen Feen. Ihr Tanz zaubert das kühlende Eis herbei, das dem Pferd helfen wird. Dicht hintereinander stehen die Feen in einer Reihe, schwingen die Arme, als wollten sie fliegen. Anna steht ganz vorn. Unsicher ertastet sie ihre Schritte, Susanne spürt ihre Anspannung: „Jetzt kann die Gruppe stützend sein“, lächelt sie „in der Gemeinsamkeit der Bewegung, die – wie bei einer Welle im Stadion – erst dann zur Geltung kommt, wenn jede einzelne Fee ihre Arme schwingt.“ Einmal, zweimal und noch einmal – aber spielerisch leicht und ganz ohne Druck. Langsam findet Anna ihren Weg in den Tanz, ihre Bewegungen werden flüssiger, wirken nicht mehr gekünstelt oder einstudiert. Und mit der Flüssigkeit der Bewegung kommt die Entspannung in ihrem Gesicht. Die anfängliche Scheu weicht dem stolzen Lächeln einer glücklichen Fee.

Susanne hält inne. Schon bei der Probe wird sie spürbar, die Quintessenz ihrer Arbeit. „Das Vertrauen, etwas schaffen zu können, mit anderen, für andere und für mich.“ Im Schutz der Gruppe entwickelt sich Anna, erkennt ihre Entfaltungsmöglichkeiten, schöpft Selbstvertrauen und Mut. Mut, den sie weitergibt an das Pferd, am letzten Tag der Woche, bei der Aufführung. Jetzt hat sie ein Publikum, es ist sonderbar still. Verwundet liegt das Pferd in der Höhle, Kleiner Wolf steht hilflos daneben, die Feen stellen sich in einer Reihe auf. Wieder steht Anna ganz vorn. Ihr Herz pocht. Jetzt ist er gekommen, ihr großer Moment. Gleich werden die schwingenden Arme der Feen im Tanz das kühlende Eis herbeizaubern, das Eis, das der Geschichte ihre Wendung zum Guten gibt. Tief holt sie Luft. Und dann tut sie etwas, das sie nie geprobt hat. Mit energischer Kraft dreht sie sich zu den anderen Feen um und feuert sie an: „Lasst uns das Pferd retten!“ Kein Zittern mehr in ihrer Stimme. Schwungvoll dreht sie sich zurück in ihre Position und breitet ihre Arme aus: „Der Zauber kann beginnen!“

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